|
Keine Solisten ohne Gruppentänzer
Die Tänzerin Polina Semionova im Gespräch · Von Malve Gradinger
Berlins Staatsballett-Intendant Vladimir Malakhov hatte ein gutes Auge, als er die 18-jährige Moskauer Ballettakademie-Absolventin Polina Semionova – hochgewachsen, mit feinen Gesichtszügen – 2002 engagierte, gleich als Solistin. Sie wurde Malakhovs Star-Ballerina, war seine Partnerin auf seinen traditionellen Japan-Tourneen und tanzte in diesen zehn Jahren viele große Rollen zwischen Klassik und dramatischer Neoklassik, von Patrice Barts „La Bayadère“ bis zu John Crankos „Onegin“-Tatjana, um nur zwei unter vielen zu nennen. Im vergangenen September wechselte sie ans renommierte New Yorker American Ballet Theatre
(ABT). Ein Schock, ein Verlust für Berlin. Polina Semionova erklärt diskret: „Es war Zeit für einen Wechsel. Künstler müssen sich weiterentwickeln.“ Dazu ist jetzt jede Menge Gelegenheit. Zurzeit pendelt sie zwischen dem ABT, der Dresdner Semperoper, dem unter Nacho Duatos Leitung seit 2011 erfolgreichen Ballett des St. Petersburger Michailowsky-Theaters und Ivan Liskas Staatsballett in München. Dort tanzt Semionova die Tempeltänzerin Nikija in Barts „La Bayadère“. Bei ihrem Münchner Gastspiel schon im Dezember letzten Jahres – sie tanzte die Hofballerina Louise in John Neumeiers „Nussknacker“ – ergab sich die Gelegenheit zu einem Gespräch.
„‚Nussknacker‘ ist mein erster Neumeier. Bei ihm geht es nicht nur um Technik, Schritte, Pas de deux. Nein, alle Bewegung hat bei ihm eine Bedeutung. Natürlich gibt es in diesem Märchen kein großes Drama. Aber gleich, was Neumeier choreografiert, es hat immer Stil. Es ist schon lange mein Traum, mit ihm zu arbeiten – und eines Tages seine ‚Kameliendame‘ zu tanzen.“ Wie sie von Neumeier spricht, wie viel Achtung sie Kollegen entgegenbringt, geht über die bei Tänzern wohl bekannte und durchaus verständliche Besessenheit hinaus. Polina Semionova strahlt mit jedem ihrer Worte eine Art Verehrung für den Tanz aus – in dem sie sich nicht als Zentrum sieht. „Es gibt keine Solisten, es gibt kein Ballett, keine Compagnie ohne Gruppentänzer“, sagt sie voller Respekt. Als Zuschauerin genieße sie die Atmosphäre, die durch das Corps de ballet geschaffen werde. Und wenn sie selbst tanze, empfinde sie die Energie der Gruppe immer als Unterstützung, als Kraftquelle für sich selbst.
Und was erwartet sie von ihren Partnern? Bisher hat sie vorwiegend mit großen Stars getanzt, neben ihrem Mentor Malakhov mit Roberto Bolle von der Mailänder Scala, José Manuel Carreno vom ABT, Mathieu Ganio vom Ballett der Pariser Oper und Igor Zelensky vom St. Petersburger Mariinsky Ballett. Semionova, immer sehr behutsam in ihren Aussagen: „Es kann schon passieren, dass zwischen zwei Tanzpartnern nicht immer alles perfekt funktioniert. Wichtig ist vor allem, einander zu ‚hören‘ und zu fühlen. Für mich ist es interessant, eine Rolle immer wieder mit neuen Partnern zu tanzen, weil ich dann für diese Rolle wieder ganz andere Facetten finden kann.“
Polina Semionova in „Der Nussknacker“ an der Bayerischen Staatsoper. Foto: Charles Tandy
Dramatische Rollen mit differenzierter Darstellungsmöglichkeit sind ihr die liebsten. Aber sie tanzt alles gerne, auch moderne Stücke. Mit einer neoklassisch-modernen Choreografie in Herbert Grönemeyers Musikvideo „Demo (Letzter Tag)“– abrufbar auf YouTube – wurde sie übrigens auch einem Nicht-Ballettpublikum bekannt. Ihre natürliche Anmut, ihr Strahlen von innen heraus spricht jeden an. Aber auch technisch ist sie hervorragend, die höllischen „fouettés“ inklusive. Wie schafft ihr langgliedriger Körper das, der nicht die stählerne, eher nur eine lyrische Ballerina vermuten lässt? „Es ist tatsächlich so, wie Sie sagen: Bei langem Rücken, langen Armen und Beinen ist die Koordination anders. Der Körper ist nicht so kompakt wie bei kleineren Mädchen. Für mich bedeutet das viel Krafteinsatz und Ausdauer. Und ich analysiere immer, warum jetzt ein Sprung oder die Pirouette funktioniert hat oder eben nicht. Jeder Körper ist anders. Und man muss für sich selber Strategien entwickeln, wie man seine persönlichen physischen Schwierigkeiten überwindet.“
(Denk-)Techniken, die sie, dank engagierter Eltern, schon sehr früh gelernt hat: „Meine Schwester ging in die Musikschule, ist ausgebildete Pianistin. Mein Bruder und ich haben schon mit drei Jahren mit Eiskunstlauf angefangen. Er ist auch Tänzer geworden“, erzählt sie.
Tänzer, engagiert im Staatsballett Berlin, ist auch ihr türkischer Ehemann. „Wir planen unser Zusammensein gut“, lässt sie ihr Semionova-Sonnenlächeln in den großen dunk-len Augen aufleuchten. „Und zwischen meinen Verpflichtungen bin ich ja auch längere Zeit zuhause.“
Malve Gradinger |