Der Tänzer als Künstler und Sportler
Einblicke in die Tanzmedizin · Von Uta Hessbrüggen
Die Lichter gehen aus, der Vorhang hebt sich, die Musik setzt ein. Im Zuschauerraum herrscht gespannte Aufmerksamkeit und auf der Bühne konzentrierte Spannung. Auf diesen Moment leben Tänzer, wie alle Bühnenkünstler, immer wieder hin. Dafür fordern Tänzer ihrem Körper alles ab. Der Körper ist das Kapital eines jeden Tänzers. Was jedoch die Zuschauer, und allzu häufig auch die Tänzer selbst, dabei übersehen: Der Körper zahlt keine Zinsen. Stattdessen fordert er von jedem Tänzer seinen – je nach Pflege und zugestandenen Erholungsphasen mehr oder weniger hohen –Tribut. Denn Tanzen ist Hochleistungssport.
Höchstleistungsaspekt
Abb. 1: Die Messung der Gelenkbeweglichkeit ist gerade für Tänzer besonders hilfreich und aussagekräftig. Im Großzehengrundgelenk beispielsweise ist die Dorsalextension, also die Streckung der Zehen in Richtung des Fußrückens, entscheidend für die Relevé-Position (halbe Spitze) und die Aufrollbewegung auf die ganze Spitze. Foto: tamed
Tänzer werden vor allem als Künstler wahrgenommen. Dabei geraten jedoch sowohl der Höchstleistungsaspekt als auch die Notwendigkeit von ausreichenden Erholungsphasen leicht aus dem Blickfeld. Für Hochleistungssportler ist eine bedarfsgerechte medizinische und therapeutische Unterstützung seit langem selbstverständlich. Bei Tänzern und Tanzausbildern hingegen fehlt allzu häufig das Bewusstsein für die enormen körperlichen Be- und auch Überlastungen. Ihre Körper verdienen und brauchen die gleiche Zuwendung, die gleichen Ruhepausen und vor allem die gleiche bedarfsgerechte medizinische Betreuung wie die anderer Sportler auch. Die Tanzmedizin hat sich als spezifische Sportmedizin für Tänzer etabliert und beschäftigt sich mit der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung tanzspezifischer Erkrankungen.
Gezielte Prävention
Ein professioneller Tänzer arbeitet mit seinem Körper. Wo dieser nicht funktioniert, sind weder eine Berufsausbildung noch die Berufsausübung möglich. Bereits geringe körperliche Einschränkungen können im Tanz zu Fehlbelastungen und dadurch zu Schädigungen führen. Deshalb beschäftigt sich die Tanzmedizin neben der Therapie vor allem auch mit der Prävention von Verletzungen und Überlastungsschäden. Die gezielte Prävention sollte bereits mit der Tanzausbildung beginnen. Zu diesem Zeitpunkt sollten die körperlichen und psychischen Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des jungen Tänzers berücksichtigt und im Laufe seiner Tanzkarriere immer wieder neu evaluiert werden (Abb. 1). Dies ist umso bedeutender, als die Ansprüche von Choreografie und Tanzvokabular in den letzten Jahren immer breiter und vielseitiger wurden. Neben den Idealvorstellungen von Ästhetik und künstlerischem Ausdruck fließen zunehmend Anforderungen aus unterschiedlichen Stilrichtungen und Erwartungen an artistische, ja akrobatische Leistungen in das professionelle Tanzgeschehen ein. Auch der Konkurrenzdruck unter Tänzern ist groß. Wer in der nächsten Produktion eine Rolle bekommt, hat wieder für ein paar Monate ein gesichertes Auskommen. Jahresverträge sind insbesondere in der freien Tanzszene, der heute etwa zwei Drittel der Tänzer in Deutschland angehören, ein seltener Luxus. Wenn diese Verträge dann verletzungsbedingt in Frage stehen, erhöht sich der Druck. Um unter diesem Erwartungs- und Leistungsdruck zu bestehen, sprengen Tänzer allzu oft die Grenzen, die ihr Körper oder ihre Psyche ihnen vorgeben. Statistiken bestätigen eine kontinuierliche Zunahme von Verletzungen im Tanz. 72 Prozent der professionellen Tänzer erleiden im Laufe ihrer Karriere bleibende körperliche Beeinträchtigungen, sei es durch Arbeitsunfälle oder durch chronische Überlastungen. Am spezifischen Bedarf von Tänzern orientierte Rehabilitationsmaßnahmen ermöglichen Tänzern eine deutlich schnellere Rückkehr auf die Bühne (Abb. 2).
Abb. 2: Am spezifischen Bedarf von Tänzern orientierte Rehabilitationsmaßnahmen, wie z.B. das Pilates-Gerätetraining oder die GYROTONIC®-Methode (s. Foto), haben gezeigt, dass Tänzer mit der entsprechenden Unterstützung deutlich schneller wieder auf die Bühne zurückkehren. Foto: Bernd Gahlen, www.filmsache.de
„Die medizinische Versorgung professioneller Tänzerinnen und Tänzer in Deutschland lässt sich deutlich verbessern. Wir verzeichnen eine sichtbare Verkürzung der Therapiezeit“, bestätigt Elisabeth Exner-Grave, Leiterin des Kompetenzzentrums Tanzmedizin in der Rehabilitationsklinik „medicos.AufSchalke“ in Gelsenkirchen. „Diese Verkürzung mindert unterm Strich auch die Kosten für das Gesundheitssystem“, versichert die Orthopädin. Solche spezifischen und umfassenden Maßnahmen werden aber von den Kassen nicht oder nur eingeschränkt getragen, weil Tänzer noch immer nicht den Status der Hochleistungssportler genießen. Auch an interdisziplinärer Kompetenz für eine qualifizierte medizinische Versorgung der Tänzer mangelt es in Deutschland. Infolge dessen verlängern sich die Ausfallzeiten von Tänzern; nicht selten ist nach einer Verletzung die berufliche Reintegration gefährdet.
Optimale Therapie und Erhalt der physischen Fitness
Durch Verletzungen sind Tänzer nicht nur über Wochen und Monate arbeitsunfähig, sie verlieren in dieser Zeit häufig auch ihre physische Fitness und Muskelkraft. Bereits durch eine vierwöchige Ruhigstellung bildet sich die Muskelmasse um 25 Prozent zurück. Darüber hinaus ist der psychische Druck für Tänzer während einer Verletzungspause enorm hoch. Außerdem ist nach Verletzungen – der überaus hohen Selbstmotivation der Tänzer zum Trotz – oft unklar, ob und wann die volle Belastbarkeit wieder hergestellt werden und der Tänzer in seinen gewohnten Arbeits- und Bühnenalltag zurückkehren kann.
Tanzmedizinische Rehabilitation beinhaltet nicht nur eine optimale Therapie für die verletzten Partien, sie sorgt auch für die Erhaltung der physischen Fitness außerhalb des Verletzungsgebietes und geht gezielt auf mögliche Tanztechnikfehler ein. Beides ist für die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und die Sekundärprävention von tanzspezifischen Erkrankungen essentiell. Zudem ist ein umfassendes Rehabilitationsprogramm auch eine mentale Stütze für die verletzten Tänzer.
Gesundheit im Tanz hat eine Stimme
Tänzerinnen und Tänzern gesund zu erhalten und ihre Situation langfristig zu ändern, diesem Ziel hat sich eine Organisation verschrieben, die die Anliegen aus Tanz und Medizin vereint. Tanzmedizin Deutschland e.V., kurz tamed, setzt sich seit 15 Jahren dafür ein, für die tägliche Realität der Tänzer ein Bewusstsein zu schaffen und die medizinisch-therapeutische Versorgung zu verbessern. tamed klärt über die Situation von Tänzern auf und richtet sich deshalb ebenso an die breite Öffentlichkeit wie an die Tanzwelt. Erst wenn die enormen Belastungen und Risiken, denen sich Tänzer täglich aussetzen, ihnen selbst und ihrem Publikum bewusst sind, kann ihre Gesundheit frühzeitig und dauerhaft bewahrt werden. Viele namhafte Tänzer und Pädagogen unterstützen die Arbeit von tamed und sind für dieses größte deutschsprachige Netzwerk für Tanzmedizin aktiv.
tamed stellt sein Engagement auf drei Säulen: Ausbilden – Behandeln – Vernetzen (s. Kasten).
tamed begründete den Begriff Tanzmedizin im deutschsprachigen Raum. Ein wichtiges Anliegen ist es, Wissen aus der Medizin so zu vermitteln, dass es für Tänzer und ihr Umfeld in der Praxis anwendbar ist. Es geht einerseits darum, ein Gesundheitsbewusstsein für die und in der Tanzszene zu schaffen und medizinische Studienergebnisse in die Praxis umzusetzen. Andererseits gilt es, einen Wissens-transfer aus dem Tanz in die medizinische Forschung herzustellen. Beide Seiten können von tamed profitieren.
Das Interesse an Tanzmedizin nimmt stetig zu. Auf die steigende Nachfrage nach erstklassigen Fachinformationen reagiert tamed mit der Veröffentlichung seines ersten Kongress-Journals (Abb. 3). Darin finden sich auf 64 Seiten spannende Beiträge vom 12. Kongress für Tanzmedizin. Das tamed Kongress-Journal bereitet aktuelles Wissen zu tanzmedizinischen Themen für alle Tanzdisziplinen nachvollziehbar auf. Damit können sich Tänzer, Mediziner, Tanzpädagogen und Bewegungstherapeuten, aber auch alle am Tanz Interessierten über den Kongress hinaus zu Themen rund um den Körper von Tänzern und Tänzerinnen weiterbilden. Die einzige Frage, die derzeit noch offen bleibt, ist die, wann das Kongress-Journal in die zweite Auflage geht. Denn die erste Auflage ist schon fast vergriffen.
Uta Hessbrüggen
Organisationsprofil
Ausbilden – Behandeln – Vernetzen. tamed rückt die Gesundheit des Tänzers in den Mittelpunkt.
tamed, Tanzmedizin Deutschland e.V., ist mit über 500 Mitgliedern die größte deutschsprachige Organisation für Tanzmedizin und stellt ihr Engagement auf drei Säulen:
Ausbilden: tamed bietet eine berufsbegleitende Basisausbildung unter dem Namen Zam. Zertifikat Tanzmedizin an. Die Ausbildung läuft über vier Semester, umfasst 132 Stunden und findet in modularen Wochenendseminaren statt. Ergänzend dazu wird ein halbjährlich wechselndes Workshop-Programm zu verschiedensten Themen im gesam-ten deutschsprachigen Raum angeboten.
Behandeln: tamed führt ein Ärzte- und Therapeutenverzeichnis, in dem Ärzte, Physio- und Bewegungstherapeuten gelistet sind, die einen tanzmedizinischen Hintergrund haben und Tänzer spezifisch beraten und behandeln.
Vernetzen: Alle zwei Jahre organisiert tamed den Kongress für Tanzmedizin. Der Kongress hat sich als wichtiges Bindeglied zwischen tanzmedizinischer Forschung und täglicher Tanzpraxis etabliert. Als Branchentreffen bietet er eine Plattform für neueste relevante Themen und intensiven Austausch.
Viele namhafte Tänzer und Pädagogen unterstützen die Arbeit von tamed und sind für dieses größte deutschsprachige Netzwerk für Tanzmedizin aktiv. Wer mehr über das breite Engagement von tamed oder über den tamed-Kongress erfahren möchte, findet weitere Informationen unter: www.tamed.de.
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