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Zwischen Begabung und Anpassung
Die „Palucca“-Biografie von Susanne Beyer · Von
Malve Gradinger
Susanne Beyer „Palucca – Die Biografie“, AvivA
Verlag, 380 Seiten, ca. 60 Abbildungen, ISBN 978-3-932338-35-9,
24,80 Euro
Der Kunst wegen die Augen verschließen, um irgendwie „gut
durchzukommen“: Das haben viele Künstler im NS-Regime
getan. Auch Gret Palucca (1902-1993), die sich dann nach Kriegsende,
wiederum mit viel Anpassungsgeschick, ins System der DDR einfügte.
Wer war diese Frau, die neben ihrer Lehrerin Mary Wigman als bedeutendste
deutsche Vertreterin des freien Tanzes der 1920er-Jahre gilt? Erst
die 2003 zugänglich gewordene Privatkorrespondenz der Palucca
ermöglichte es der Kulturjournalistin Susanne Beyer in ihrer „Palucca“-Biografie,
dieser schwer fassbaren Persönlichkeit ganz nahe zu kommen.
Dass die Palucca im Gegensatz zur düsteren, abgründigen,
dramatischen Wigman die heitere, lebensbejahende, unersättlich
temperamentvolle Tänzerin und Tanzschöpferin war, ist
bekannt. In dem für sie typischen wilden Schwung von Arm und
Bein ist sie auf zahlreichen Fotos der Nachwelt erhalten. Auch
darüber, über die Strahlkraft dieser nur 1,58 Meter großen,
aber drahtig-athletischen Tänzerin, über ihr Verständnis
von Bewegung aus spontaner Individualität, über ihre
eiserne Disziplin im eigenen Tanz wie in der Lehre vom Tanz, berichtet
Beyer ausführlich. Das Hauptverdienst, ja die Faszination
des Buches liegt jedoch vor allem darin, dass die Autorin Paluccas
Besessenheit, Zähigkeit und ihre Gratwanderungen im Spiegel
des höchst wechselvollen 20. Jahrhunderts herausarbeitet.
Von den Beziehungen zwischen Kaiserreich und Osmanischem Reich
und dem industriellen Aufschwung mit Dresdens neu entstehenden
Schokoladen- und Zigarettenfabriken bis zur Armut und den Kriegskrüppeln
nach dem Ersten Weltkrieg; vom Kapp-Putsch 1920 und der intensiv
abgehandelten Hitlerzeit bis zu den schwierigen Lebensverhältnissen
in der DDR, den Bücher- und Fresspäckchen aus der BRD,
der burschikosen Mode der 20er- und der sexuellen Freiheit der
60er-Jahre.
Als Tochter von Max Paluka, Sohn einer in Konstantinopel niedergelassenen
begüterten Kaufmannsfamilie, und der aus großbürgerlich-jüdischer
Familie stammenden, schauspiel-ambitionierten Rosa Merfeld wird
Gret 1902 in München geboren, ein schon ganz früh bewegungshungriges
Kind, das beglückt herumhüpft, wenn Goßmutter Merfeld
Klavier spielt. Eine nur kurz währende behütete Idylle.
Die in Marienplatz-Nähe gelegene Parfümerie ihres Vaters
geht bankrott.
Misslungener Neuanfang im kalifornischen San Francisco. Scheidung
der Eltern. Wiederheirat der Mutter. Tod von Vater Max 1915 auf
russischem Schlachtfeld, 1919 Unfalltod des nur ein Jahr jüngeren
geliebten Bruders. Ereignisse, die wohl Gret Paluccas frühe
Reife und Durchsetzungskraft erklären, andererseits ihr überstarkes
Bedürfnis nach Zuwendung.
Und es ist immer jemand da, der sie unterstützt, während
sie ab 1925 – sie ist erst 23 – in ihrer eigenen Dresdner
Schule unterrichtet und in ganz Deutschland auftritt. Zunächst
ihr Ehemann Friedrich Bienert, reicher Fabrikantensohn und Kunstmäzen,
mit dem sie das glamouröse Leben im inspirierenden Kreise
von Künstlern wie Klee, Kandinsky, Jawlensky und Moholoy-Nagy
genießt; der sie als Impresario und auch werbemäßig
geschickt fördert: die Palucca auf Zigarettenbildchen und
auf Kaffee-Hag-Plakaten in der Reichsbahn.
Danach ist es ihr Geliebter, der verheiratete Publizist Will
Grohmann, der an allen Fronten für sie kämpft. Als sie, gerade
noch bei den Olympischen Spielen 1936 euphorisch gefeiert, als
Halbjüdin Auftrittsverbot erhält, kann er dies durch
diplomatische Schreiben an das Propagandaministerium abwenden.
Diplomatie – auch Palucca versteht sich darauf. Obgleich
im NS- wie im DDR-Staat lesbische Liebe strafbar ist, gelingt es
ihr, unbehelligt mit ihren weiblichen Geliebten zusammenzuleben.
Und sie, die hochdekorierte Vorzeigekünstlerin des SED-Staates,
kann durch immer mal wieder angedrohte Abwanderung in den Westen
Vorteile für ihre gleich 1945 im Trümmerhaufen Dresden
wieder aufgebaute Schule aushandeln, aber auch private Vergünstigungen,
vom Auto mit Chauffeur bis zum Feriendomizil auf Hiddensee.
Beyer, im Bewusstsein der „Gnade der späten Geburt“,
wertet nicht, liefert jedoch mit Sinnfälligkeit schaffender
Akribie, dabei dokumentarisch transparentem Stil, ein in jeder
Hinsicht lesenswertes Jahrhundert-Porträt.
Malve Gradinger
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