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Warum tanzen wir überhaupt?
Zum Tod der Choreografin Pina Bausch · Von Malve Gradinger Bestürzung und Trauer nicht nur in ihrem Wuppertaler Tanztheater,
das sie ab 1973/74 zu Weltruhm führte, sondern bei Zuschauern
weltweit, die den Tanz durch Pina Bausch entdeckt haben – weil
ihr Tanz eine Auseinandersetzung mit dem Menschlichen und Zwischenmenschlichen
war.
Die große Bausch, Erfinderin des Genres Tanztheater und Jahrhundertkünstlerin,
ist tot. Ein zu überraschender Abschied – schien diese
immer etwas melancholisch-herbe Frau in ihrer spartanischen Lebensweise
doch nie anfällig für Krankheiten. Pro Saison ein neues
Stück, an dem bis zum Premierenvorhang gefeilt wurde, die
Wiederaufnahmen, die minutiösen Proben, die kraftheischenden
Welttourneen, auch noch jährlich ein großes Tanzfestival,
dieser ganze Kraftakt schien so selbstverständlich wie der
Jahreswechsel. Nach der Premiere ihrer letzten Kreation am 12. Juni im Opernhaus
Wuppertal-Barmen habe sie sich erschöpft gefühlt. Am
30. Juni, nur fünf Tage nach einer Krebsdiagnose, stirbt sie.
Am 27. Juli wäre sie 69 Jahre alt geworden. Zum Arzt sei Pina
nur ungern gegangen, schreibt Jo Ann Endicott, drei Jahrzehnte
lang eine ihrer markantesten Tänzerinnen und zuletzt ihre
Assistentin, in ihrem heuer erschienenen Buch „Warten auf
Pina“ (s. unsere Rezension, Oper&Tanz, Ausg. 2/09). Und: „Nichts
gönnt sie sich. Ihre Arbeit frisst sie auf.“ Im Nachhinein
liest sich das wie eine Vorausahnung.
Dabei hatte die Bausch „noch so furchtbar viel vor“,
wie sie 2007 anlässlich des Kyoto-Preises äußerte.
Mit Auszeichnungen und Preisen ist sie überschüttet worden.
Posthum wurde ihr noch der Faust-Preis des Deutschen Bühnenvereins
für ihr Lebenswerk verliehen. Ein Werk, das weit über
ihr Leben hinauswirkt.
Ausbildung und Begabung „Warum tanzen wir überhaupt?“ Mit dieser Hinterfragung
einer rein ästhetischen Tanzkunst, mit poetischen, alle Sinne
und die Phantasie beflügelnden Bühnenbildern (bis 1980
entworfen von ihrem früh verstorbenen Lebenspartner Rolf Borzik,
danach von Peter Pabst), mit ihrer ganz anderen Körpersprache
und ihrem Blick in die menschliche Seele hat sie auch das Theater,
die Oper und den Film tiefgreifend beeinflusst.
Menschen beobachtet hat schon die kleine Pina aus ihrem Versteck
unter den Tischen des elterlichen Solinger Gasthauses. Dort entdeckt
man auch ihr Bewegungstalent: Also Ballettschule und ab 1955, sie
ist gerade 14, die Ausbildung an der Essener Folkwangschule unter
Kurt Jooss, einem Schüler noch von Rudolf von Laban, dem Bewegungstheoretiker
und Initiator des deutschen Ausdruckstanzes. Ein Glücksfall.
Bei Jooss, der gelegentlich schon Sprache und Schauspiel-Elemente
einsetzte, lernt sie vor allem die Offenheit anderen Künsten
und Einflüssen gegenüber. Durch einen Studienaufenthalt
in den USA (1959-61) kommt sie, auch das ein Glücksfall, schon
früher als die meisten hierzulande mit den neuen Techniken
und Stilen des amerikanischen Modern und des beginnenden Postmodern
Dance in Berührung.
Und dann der 68er-Aufstand gegen die Vätergeneration. Die
neue Freiheit im Denken, auch in den Künsten. Das junge wilde
Regietheater krempelt die Klassiker um, sucht nach neuen sinnlichen
Bildern. Fragte: Was kann, was will Theater? Und ähnlich aufsässig
die Choreografen Hans Kresnik, Gerhard Bohner und Pina Bausch. Lösung vom Klassischen
Die Zeit war reif für eine neue Art von Tanz, so wie die 1910er-/20er-Jahre
notwendig den Ausdruckstanz hervorgebracht hatten. Und die Bausch
gab dieser Notwendigkeit eine einzigartige Form. Ihr „Sacre
du Printemps“ von 1975, längst ein Klassiker und von
Elite-Ensembles wie dem Ballett der Pariser Oper getanzt, ist ihr
letztes durchchoreografiertes Stück. Aber schon Anfang der
70er-Jahre beginnen die Tanzvokabeln und die Dramaturgien sich
aufzulösen. Bausch verwendet auch keine Libretti und klassischen
Musiken mehr – und wenn, dann nur, um die Vorlagen zu zerbrechen.
Mit sinnvoller Absicht. Wenn sie 1977 die Bandeinspielung von
Bartóks
Oper „Herzog Blaubarts Burg“ unterbricht, zurückspulen
und Passagen wiederholen lässt, provoziert sie an den Bruchstellen
eine reflektierende Distanz. In Blaubart und Judith stehen sich
plötzlich Mann und Frau gegenüber – in ihrer Suche
nach Zärtlichkeit, in ihren Missverständnissen, Machtspielen
und gegenseitigen seelischen Verletzungen. Die alltäglichen
Partnerkonflikte bleiben das zentrale Thema, das Schritt für
Schritt zu diesem neuen Genre, ihrem Tanztheater hinführt:
ein Reigen von lyrisch zarten, komödiantisch grellen oder
auch dramatisch harten Bewegungsbildern, modelliert von Pina Bausch
aus den in langen Gesprächen mit ihren Tänzern gesammelten
Geschichten über Kindheit, Eltern, Partner, Ängste, Wünsche
und Verluste. Es war Bauschs unerbittlicher Aussagewille gepaart
mit einem unerhörten künstlerischen Forminstinkt, aber
auch die Authentizität des „seelischen Materials“,
und natürlich diese so noch nie dagewesene Zusammenarbeit
zwischen Choreograf und Tänzern, die ihr Tanztheater so wirklichkeitsnah,
so wahrhaftig machten. Auch anstrengend. Vom gewohnten Ballettmärchen
in Pinas Welt geworfen zu werden, in der auch noch, damals völlig
ungewöhnlich, Klassik, Ethno, Jazz, Pop und nostalgische Schlager
Stimmungen verstärkten oder ironisch konterkarierten, das
war ein Schock. Die auf der Wuppertaler Opernbühne tobenden
Geschlechterkampf-Verfolgungsjagden, begleitet von hysterischem
Kreischen, die krassen Bekenntnismonologe, das direkte Aussprechen
von Wahrheiten – das rührte an Verdrängtes, überrannnte
Schamgrenzen, machte Angst. Drei, vier Jahre hat es gedauert, bis
die Wuppertaler nicht mehr türenknallend flüchteten.
Pina Bausch hat das durchgestanden.
Auch das ein Kraftakt. Irgendwann hatten die Zuschauer begriffen,
dass in Macho-Gehabe und Pin-up-Posen Fragen nach Selbstbestimmung
und Identität gestellt wurden. Hatten Vergnügen daran,
Bauschs Bild-Metaphern zu entschlüsseln, den Humor anzunehmen.
Machten selbst enthusiastisch mit, als Bausch „Kontakthof“ von
1978 mit Laien als „Kontakthof für Damen und Herren
ab 65“ 2000 neu einstudierte. Dem ließ sie 2008 noch
eine Version „mit Teenagern ab 14“ folgen. Offene Fragen
Dass sich die frühe Rebellion gegen selbstzweckhaften schönen
Tanz wie gegen alte Mann-Frau-Rollenklischees verbrauchen würde,
war auch Pina Bausch klar. In den letzten Jahren ist sie wieder
mehr zum Tanz zurückgekehrt, wunderschön fließendem
Tanz, der, entsprechend der nachgewachsenen Tänzergeneration,
die neueren athletisch-artistischen Strömungen integrierte.
Auch darin war sie eine Meisterin. Zwangsläufig gab es in
diesen gut 40 Jahren eines ungewöhnlich kreativen Schaffens
auch schwächere Stücke. Anders wäre es unwirklich
gewesen. Vielleicht wird erst jetzt nach ihrem Tod ihre große
Künstlerschaft voll hervortreten. Ihre Bewegungs-Bilder sind
offen, können in jeder Zeit, in jedem Land neu gedeutet werden.
Ihre in Nelkenfeldern, Kakteen-Parks, an Badestränden und
auf Rosenhügeln aufblühenden Stücke wurden Gesamtkunstwerke.
Muss man sie nun verloren geben? „Einer, der Stücke
in meinem Sinne kreiert, das sehe ich kaum“, wird Pina Bausch
in einem Interview der Westdeutschen Zeitung (WZ) zitiert. Vorstellen
könne sie sich einen von ihr bestimmten Kurator, der über
ihr Werk wacht und es in ihrem Sinne aufführt. Aber selbst
wenn ein solcher nun gefunden wird, wie lange wird er die Qualität
des Repertoires halten können?
NRW wird vorerst die Subvention von fast einer Million Euro weiterzahlen,
um die geplanten Tourneen zu sichern. Zurückliegende Gespräche
zwischen Bausch und Staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff über
die Gründung einer Stiftung und eines Archivs für ihren
Nachlass auf der Museumsinsel Hombroich hatten noch zu keinem konkreten
Ergebniss geführt. Die Sicherung ihres Erbes und die Weiterführung
des Tanztheaters Wuppertal – ein noch offenes Kapitel.
Malve
Gradinger
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