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Tot oder lebendig? Die Operette
Über einen kontroversen Kongress in Dresden · Von Martin
Morgenstern
Wo kommt die Operette her, wo steht sie momentan, und wo will
sie hin? Diesen gedanklichen Dreischritt zu vollziehen, waren Operettenkenner,
-verleger und -liebhaber im Juni nach Dresden eingeladen. Das dortige
Haus, den Genres Operette, Spieloper und Musical verpflichtet,
hatte nach einer ersten Tagung zur „Operette unterm Hakenkreuz“ vor
vier Jahren nun zur Fortsetzung unter dem Titel „Kulturgeschichte
der Operette“ geladen. Man traf sich in der „Fledermaus“,
dem Restaurant der Staatsoperette Dresden. Die residiert momentan
noch in einem abwrackreifen ehemaligen Gasthof in einem Dresdner
Vorort, bis dass die Stadtväter und -mütter endlich den
Weg der 245 Mitarbeiter in die Innenstadt, in ein neu zu bauendes
Haus, freimachen. So lange hat der Intendant Wolfgang Schaller
allen künstlerischen und technischen Kräften Optimismus
verordnet. Allabendlich spielt, tanzt, singt man sich – freiwillig
weit unter Tarif, damit die Stadt Geld für den Neubau spare – über
die morschen Bretter, die im verschlafenen Leuben zur Zeit die
Welt bedeuten. Eine überdimensionierte Investruine aus Nachwendezeiten
gegenüber, von der Seite dräut ein Supermarkt – was
das ansässige Publikum geflissentlich ignoriert, macht die
im Bus anreisenden Touristen schauern. Was Wunder, wenn hier so
manches eingestreute Couplet zynisch gegen den Baubürgermeister
gerichtet ist?
Nun also eine wissenschaftliche Konferenz über editorische
Aspekte von neuen Operetten-Editionen, über ihr „performatives
Potential“, über „Bewertungskriterien im Wandel“.
Das Tagungsprogramm machte dreierlei deutlich: dass erstens nicht
viele Literatur- und Musikwissenschaftler sich überhaupt auf
Fragen zur Gattung einlassen mögen; und wenn doch, dann nähern
sie sich ihr anekdotisch; in ironischer Rückschau („Meine
Tante Ella schenkte mir meine erste Schallplatte“ – Axel
Brüggemann) oder in moralischer oder stilistischer Apologetik.
Dass zweitens – trotz ständiger Beteuerungen der Anwesenden – das
Genre „mausetot“ ist (so der Chef des kleinen Labels
cpo, Burkhard Schmilgun), und wie zur Bestätigung weder Gesangs-
noch Musikwissenschaftsstudenten der ansässigen Universität
oder Musikhochschule, geschweige denn Gäste auswärtiger
Institute zur Konferenz erschienen waren. Und dass – drittens
und vielleicht schlimmstens – offenbar Uneinigkeit darüber
herrscht, welchen Weg die Operette einschlagen sollte, um in Zukunft
nicht als bloße „Cashcow der Stadttheater“ (Brüggemann)
zu enden oder gar völlig von den Spielplänen zu verschwinden.
Sollte sie sich ihrer kleineren, quickeren Schwester, dem Musical,
annähern oder von ihr harsch abgrenzen; aktuelle Stoffe und
zeittypischere Stilistiken oder Kaiserreichseligkeit bedienen?
Sollte sie sich die Tagesaktualität, die herbe kabarettistische
Säure, die anzüglichen Couplets der zwanziger Jahre des
letzten Jahrhunderts zum Vorbild nehmen und Politisches, zwischenmenschlich
Biederes aufs Korn? Oder sollten die Häuser, die heute noch
Operette spielen, jeglichen inszenatorischen Anspruch fahren lassen
und heiter die Bedürfnisse der 70plus-Generation bedienen?
Oder doch lieber historisch-kritisches Archivieren der wichtigsten
Marksteine des Genres auf Tonträger, auf den typischen Instrumenten
der Entstehungszeit, wie es Label-Chef Schmilgun empfiehlt? Unklarheit,
krasse Widersprüche, für eine Tagung ungewöhnlich
heftige Streitgespräche bis zur letzten Konferenzminute. Wenig überzeugende Beispiele
Wüsste man nun nicht um die gewissenhaften Bemühungen
des am Dresdner Haus angestellten Mediendramaturgen Uwe Schneider
und seines Regie-Kollegen André Meyer, im Schulterschluss
mit dem Dirigenten Ernst Theis der Dresdner Staatsoperette den
Nimbus des etwas verlotterten und gern auch mal verklemmt-verruchten
Vorstadt-Kabaretts zu nehmen und endlich Anschluss an die internationale
Forschungslandschaft zu finden – man müsste schier verzweifeln
angesichts der drei Repertoire-Stücke, die in Leuben während
der Tagung zu sehen waren. Zuerst war da ein „Rössl“ in
humorloser Epigonalität (die Bühne: ein Karussell), mit
schenkelklatscherischer Bussi-Romantik und doch ohne wenigstens
einen leisen Funken Erotik; gefolgt von einer biederen „Périchole“,
in der das Haus sich selbst und seine leeren Taschen bühnenbildnerisch
verarbeitet; und gekrönt von einer holprigen „Candide“,
von einem sängerisch offenbar indisponierten Protagonisten,
der wie eine Marionette über die leere Bühne stolperte
und sich von einem selbstmitleidigen Voltaire (traurig-verbittert:
der zu DDR-Zeiten so pointenscharfe Kabarettist Peter Ensikat)
seine eigene Geschichte erzählen
ließ.
Die Staatsoperette Dresden selbst, so musste der Besucher der
Konferenz diesen drei Abenden entnehmen, zerreibt sich hier unter
Schmerzen
zwischen Leitbildern, die sich diametral entgegenstehen: der Publikumsnähe
und dem Kunstanspruch. Wohl gräbt man mit Lust Wiederentdeckungen
aus, plant europäische
Erstaufführungen und spielt das „Rössl“ aus
dem originalen, jüngst in Zagreb wiederentdeckten Notenmaterial,
das für die monumentalen Aufführungen im Großen
Berliner Schauspielhaus eingerichtet war. Und muss dann doch den
Orchestersatz, der für 200 Musiker (!) gedacht ist, für
den kleinen Graben wieder an allen Ecken und Enden zusammenkürzen.
Das Ergebnis: eine mitnichten frechere, eher dickere Fassung, die
die Sänger zwingt, mit Microports aufzutreten. Oder das groß angekündigte
Auftragswerk im letzten Jahr, mit dem die Operette jubelnd ins
neue Haus in der Innenstadt einzuziehen gedachte (bis die Stadt
die Planungen – wieder einmal! – über den Haufen
warf). „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ heißt
das Stück, das die künstlerische Ästhetik der zwanziger,
dreißiger Jahre plump kolportiert, ohne die Leichtigkeit,
den Witz oder den Charme des UFA-Films gleichen Titels auch nur
im mindesten zu erreichen. Ausblick und Dämpfer
Wie ein tosendes Erdbeben, wie ein erfrischender Sommersturm
wirkten da die eingangs gesprochenen Worte des vom gar nicht so
fernen
Hellerauer Hügel hinuntergestiegenen Festspielhaus-Intendanten
Dieter Jaenicke. Der bekannte ehrlich, seine Operettenkenntnisse
gingen über eine „Fledermaus“ und eine „Lustige
Witwe“, an der er seinerzeit als Jugendlicher so gar nichts
Lustiges gefunden habe, kaum hinaus. Und äußerte doch
Substantielles über eine mögliche Operette der Zukunft,
die – im Gegensatz zu heute – jedenfalls gezwungen
wäre, „uns etwas über uns zu erzählen“.
Jaenicke fragte, ob für das heutige Operettenpublikum nicht
eher das Vertraute, Bekannte, Amüsante, die leichte Unterhaltung,
als das Bedürfnis nach kritischer Reflexion der Geistes-,
Sozial-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte eine Rolle spielten.
Zur gegenseitigen Inspiration lud der Intendant den Kollegen Wolfgang
Schaller ein, bot einen „innerstädtischen kulturellen
Brückenschlag“ an zwischen dem Hellerauer Festspielhaus
und der Staatsoperette. Leider ging Dieter Jaenicke dann früher
und erlebte nicht, wie der nachfolgende Referent unterbrochen wurde
von einem Publikum in rosa Hemden, cremefarbenen Sakkos und mit
bunten Fliegen unterm Kinn. Das enterte nämlich das „Fledermaus“-Restaurant
pünktlich fünfundsiebzig Minuten vor Vorstellungsbeginn,
besetzte noch den letzten freien Platz und machte sogleich unmissverständlich
klar, es wolle jetzt hier zu Abend essen. Ein Schauspiel, aber
auch ein ziemlicher Dämpfer für diejenigen, die steif
und fest behaupten, das Genre Operette habe den Generationswechsel
fest im Blick und werbe um immer neue Publikumsschichten. Die Realität
belehrt die, die genau hinschauen, zur Zeit eines Besseren. Martin Morgenstern |