
Fehlende Tiefenschärfe
Kevin O‘Days „Hamlet“-Ballett in Stuttgart · Von
Vesna Mlakar
William Shakespeares wortgewaltiges Drama umgesetzt in bloße
Bewegung? Die Herausforderung ist enorm und der Amerikaner Kevin
O’Day keineswegs der erste Choreograf, der sich an diesem
tiefgründig komplexen Stoff verhebt. Warum seine Wahl nach
bereits drei kürzeren Arbeiten für das Stuttgarter Ballett
ausgerechnet auf „Hamlet“ fiel, dafür hat der
seit 2002 am Mannheimer Nationaltheater tätige Ballettdirektor
und Chefchoreograf eine plausible Erklärung parat: „Hamlet“ verlangt
fünf männliche Haupt- und einige Nebenrollen – was
in Stuttgart kein Problem ist, da die Compagnie „über
viele phänomenal talentierte Tänzer verfügt“.
Stimmt! Sein zweiter Grund ist sehr persönlich und hängt
mit dem plötzlichen Tod seines Vaters vor zwei Jahren zusammen. Über
das Hinterfragen der eigenen Vater-Sohn-Beziehung kam er zu „Hamlet“,
um ausgerechnet hier zu versäumen, seinem Titelhelden Jason
Reilly genügend Gelegenheit zu einer nuancierten Darstellung
all dessen zu geben, was die Figur ausmacht: innere Kämpfe
beziehungsweise Verhaltensschwankungen, die von Verlustschmerz,
Verzweiflung, Entsetzen und Rachegelüsten motiviert sind.
Der Haken liegt – wie so oft – in der Dramaturgie.
Der Ballettabend beginnt mit einer Exposition von hasserfüllter
Trauer. Zusammengekauert, auf Boden und Körper einschlagend,
versucht Reilly alias Hamlet vergeblich, sich den edel gelochten
Pulli gleich einer ungewollten zweiten Haut abzustreifen. Es fällt
ihm schwer, Ruhe zu bewahren. Seine Gefühle vor dem Grab des
Vaters scheinen (zeitgleich zum hinausgezögerten Musikeinsatz)
zu explodieren. In kraftvoll-vertrackten Sprüngen macht der
virile Körper sich Luft, bevor ihn das Grauen erneut niederdrückt.
Dabei verschmilzt O’Days klassisch fundiertes Schrittmaterial
in Hamlets sich immer wieder ähnelnden Soli perfekt mit den
akrobatisch-alltäglichen Allüren des zeitgenössischen
Bühnentanzes.
Schnell wird klar, dass der Raum – ein funktional-schlichtes
Bühnenbild mit schwarzen Wänden, einem Podest auf halber
Höhe, Türen und verhängten Durchsichten (Ausstatterin:
Tatyana van Walsum) – für Hamlet (er verlässt die
Szene so gut wie nie!) ein Gefängnis darstellt, in dem spioniert
und intrigiert wird. Etwas länger dauert es, bis man das weitere
Figurenpersonal durchschaut. Kaum Anhaltspunkte finden sich in
den auf wenige Farben reduzierten Kostümen. Was nicht weiter
schlimm wäre, wenn Kevin O’Day stärker an den choreografischen
Charakterisierungen gefeilt hätte. Gelungen ist ihm dies nur
bei Rosenkranz und Güldenstern, dem unzertrennlichen Synchronpaar.
Welche Fäden die beiden jedoch im Stück ziehen, bevor
Hamlet sie gegen Ende in die Versenkung (Grab?) schubst, bleibt
vage.
So überwiegt im ersten, Handlung wie Personenkonstellationen
einleitenden Ensemblebild das Rätselraten. Und der Pas de
deux der Mutter Gertrud (wie immer souverän: Bridget Breiner)
mit Hamlets Onkel Claudius (Jirí Jelinek) erschöpft
sich zu „Sacre“-artig abgehackten Rhythmen vor dem
eigentlich überflüssigen Wogen von vier Hofpaaren in
Anspringen und Verdrehen, was offenbar leidenschaftliche Begierde
demonstrieren soll. Das Potential an Interaktion und Konfrontation,
das die literarische Vorlage hier bietet, wird verschenkt. Schade,
denn als O’Day im zweiten Teil etwas davon nachholt, Claudius
in einem Solo endlich die perfide Falschheit und angstvolle Zerrissenheit
ausdrücken lässt, überzeugt die Kraft seiner Tanzsprache.
Die stärksten Momente sind jene, in denen es Kevin O’Day
gelingt, die umfangreiche Story zu verdichten und im Sinne einer
nachvollziehbaren Tanzdramatik zu interpretieren. Laertes’ (Evan
McKie zieht alle Register) Rückkehr an den Hof und seine Entdeckung
der toten Angehörigen Ophelia und Polonius beispielsweise:
die ganze Dimension einer fremdverschuldeten Familientragödie
verpackt in ein großes Solo.
Jason Reilly agiert in Bestform. Sein Hamlet darf sich erst gegen
Ende in einen ergreifend-rasenden Aktionismus stürzen, nachdem
er zu Beginn des zweiten Aufzugs verblüffend gut aufgelegt
eine ganz in weiß gekleidete Hofgesellschaft zu jazzigen
Vollklängen aus dem Orchester (Musik: John King) und zur Freude
der Mutter übers Parkett dirigiert. Dabei geht im allgemeinen
Partyfieber (auch Polonius und seine Tochter lassen sich mitreißen)
der eigentliche Clou der Szene, nämlich die Überführung
des Onkels durch das Nachspielen der Mordszene, fast unter.
Dafür entschädigen mag das furiose Finale, in dem sich
die Klingen auf Leben und Tod kreuzen und Gift jeden Funken an
Hoffnung auslöscht. Der Verfall spiegelt sich im Bühnenhintergrund
in der Projektion einer überdimensionalen porösen Skelettstruktur
wider. Und wenn Horatio (Alexander Jones), der als einziger unbeschadet überlebt,
mit zurückgenommener Gestik den mächtigen Halsring – das
Symbol der Macht – neben Hamlets Leiche ablegt, steht zumindest
eines fest: Diesem choreografischen Wagnis fehlt es an Tiefenschärfe. Vesna Mlakar
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