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Portrait
Eine erstklassige Compagnie
Gonzalo Galgueras letzte Spielzeit als Ballettchef in Magdeburg
„Ich will nicht ironisieren.“ Was Gonzalo Galguera mit offenem Blick und Nachdruck artikuliert, gilt auch für „Paquita“. Eigentlich sollte das Ballett Magdeburg den vernachlässigten Klassiker schon in der letzten Spielzeit herausbringen. Auch dieser wurde von dem Diskursfeuer erfasst, in dem die Komische Oper Berlin und das Opernhaus Magdeburg Strauß‘ Operette zum „‚Zigeuner‘-Baron“ umgestalteten. Das phantastische Bühnenvolk findet sich im Figurenverzeichnis Paul Fouchers und Joseph Maziliers von 1846 und in Marius Petipas Fassung für das Kaiserliche Theater Sankt Petersburg 1881. Zwar erweist sich Paquita als standesgemäß ebenbürtig zu ihrem Verehrer Lucien, tingelt bis dahin aber mit einer ethnischen Gruppe, der man tänzerische und kriminelle Energien zuschrieb, über die iberische Halbinsel. Aus diesem phantastisch verbrämten Bühnenvolk machte man in Magdeburg eine „Tanztruppe“, hielt jedoch an choreografischen Charakteristika der alten Fassungen fest. Fehlende Kontraste zwischen Courtoisie und Exotik hätten dieses Ballett empfindlich beschädigt und sicher nicht zum Besseren verändert.
„Paquita“ mit Cristina Salamon Lama, Rodrigo Aryam, Chihiro Tamai, Grace Monahan, Ensemble. Foto: Andreas Lander
Gonzalo Galguera ist ein Anhänger, Verfechter und Meister des romantischen und modernen Tanzes. Das beweist er mit dem Ballett Magdeburg seit 2006, indem er es zu einer erstklassigen Compagnie aufbaute. Galgueras Ägide endet nach der Spielzeit 2021/2022. Julien Chavez, Nachfolger von Generalintendantin Karen Stone, verlängert nur Verträge von Tänzerinnen und Tänzern mit rechtlichem Kündigungsschutz. Als Galgueras Nachfolger kommt Jörg Mannes, dessen Vorlieben eher zum Tanztheater tendieren, aus dem 150 Kilometer entfernten Hannover nach Magdeburg. Eine Petition mit 2.000 Unterzeichnungen gegen Galgueras Nichtverlängerung und die lebhafte Darstellung des Widerstands großer Publikumsgruppen fanden in den lokalen Medien breiten Widerhall. Währenddessen bereitete Galguera einen finalen künstlerischen Rundumschlag vor, der nach 16 Spielzeiten in der Abschlussproduktion „Das Leben, ein Fest“ gipfelt.
Er versteht sich „nicht als verlängerter Ausbildungsbetrieb“, die Compagnie ist für ihn wie eine Familie. Mit klassischen Handlungsballetten, Adaptionen anspruchsvoller Belletristik sowie abstrakten bis nostalgischen Kreationen wie „Diva“ (2018) durchschritt Galguera einen ganzen Kosmos von Sujets – bis zum digitalen Ballett „Eden One“, das er im Frühjahr 2021 auf der großen Bühne mit kleiner Besetzung kreierte. „Eden One“ ist ein der Pandemie geschuldeter Einzelfall, Vorstellungen mit physischem Publikum waren nicht vorgesehen. Digitale Aufführungsformate lassen Galguera kalt, solange sie für eine Idee nicht zwingende Dringlichkeit haben. Das Wort „Handwerk“ hat der sinnliche Purist nie aus seinem Wortschatz verbannt.
Nach Tanzengagements beim Nationalballett Kuba, beim Ballet Municipal de Lima und beim Ballet Clásico de Madrid María de Ávila holte Tom Schilling ihn 1990 ins noch autonome Ballett der Komischen Oper Berlin. Der Ruf nach Magdeburg folgte auf Galgueras erste Ballettdirektion am Anhaltischen Theater Dessau bei Johannes Felsenstein von 2001 bis 2006.
„Eden One – Online Ballettminiaturen“ mit Antoine Bertran, Anastasia Gavrilenkova und Mihail Belilov. Foto: Andreas Lander
Die Binnenspannung zwischen der dramaturgischen Gründlichkeit des realistischen Musiktheaters und virtuosem Tanz mit Festlichkeit und Leidenschaft wurde zum international gewürdigten Alleinstellungsmerkmal der Magdeburger Compagnie. So dort zu sehen in „Paquita“, Galgueras letztem Romantik-Klassiker vor Ort: Das große Ensemble machte in den großen Szenen mit spanischem Kolorit besten Eindruck; dies wurde vom für die Choreografie weitaus komplizierteren Mittelakt noch übertroffen. Dieser könnte sogar eingefleischte Ballettomanen zum Schmunzeln bringen. Die Begebenheiten in einem düsteren Tavernenkeller wirken wie ein Mix vergröberter Schauereffekte aus „Tosca“ und „Fidelio“: Der spanische Napoleon-Gegner Lopez will den von Paquita geliebten Franzosen Lucien umbringen. Ihr gelingt es jedoch, ihrem von Lopez als Mörder gedungenen „Zigeuner“-Vater Iñigo ein Glas mit vergiftetem Wein zuzuschieben. Iñigo verröchelt, Lucien aber ist gerettet. Demzufolge feiert man im Finale mit dem große Pas de deux, einer beliebten Galanummer, und einem aufwändigen Divertissement die Hochzeit. Galgueras Ausstatter Darko Petrovic imitierte riesige Backstein-Rundbögen à la Piranesi. Seine Kostüme sind bunt und die Schnitte adrett. Das ist weder kitschig noch ein Ballerina-Disneyland, weil die Liebe zum Ausstattungszauber ohne Nachahmungen berühmter Vorbilder auskommt. Marta Petkova als Titelfigur, Mihael Belilov als Lucien und Rodrigo Aryam als Iñigo tanzen mit einer souveränen Plastizität, die man für Ironie halten könnte. Das ist Absicht. Galgueras Präzisionszwang hat den Begleiteffekt, dass – an welchen mittelgroßen Theatern geht das noch? – große Klassiker über mehrere Spielzeiten im Repertoire bleiben und ihre szenisch-dekorative Frische langfristig bewahren. Ergraute und schlaffe Tutus gab es in diesen siebzehn Jahren nie.
Dafür aber selten zu erlebende Klassiker wie „Don Quichotte“ (2014), „Raymonda“ (2018) und vor allem den legendären „Le corsaire“ (2017). Bei jeder Galguera-Produktion erstaunt die Sorgfalt, welche sich nicht nur auf die Stilechtheit der Choreografien beschränkt. Für „Le corsaire“, dem Paradestück für Männer-Corps klassischer Formationen, und „Paquita“ verwendete Galguera die wissenschaftlich verlässlichen Noteneditionen von Maria Babanina für das Bayerische Staatsballett München. Nicht zuletzt die brillante Veredelung der als Gebrauchspartituren verschrienen Kompositionen von Minkus, Pugni und anderen durch die Magdeburgische Philharmonie erhöht die Freude an den Ballettabenden. Notgedrungen musste man sich wegen der engen Premieren- und Konzertfolge im Frühherbst 2021 bei „Paquita“ leider mit Musik aus den Boxen begnügen.
Natürlich teilt Galguera mit Kolleginnen und Kollegen manche für den Bühnentanz typische Sujet-Vorlieben, die bei ihm überraschende Wendungen erfahren wie im Lorca-Abend (2014), „America Noir“ (2017) und „Dracula“ (2019). Weil Galguera sich nie mit dem Bebildern literarischer Stoffe zufrieden gibt, kam es oft zum Ringen mit den Worten wie bei „Die Wahlverwandtschaften“ (2016). Da geriet die Tanz-Transformation noch komplizierter als Goethes Roman. Schade, dass wegen des Premieren-Tsunamis seit Ende des zweiten Lockdowns Galgueras „Verwirrung der Gefühle“ nach Stefan Zweig abgesagt werden musste. Gerade in diesem Sujet hätte es nochmals zu den intensiven künstlerischen Herausforderungen kommen können, die Galgueras Magdeburger Jahre zum Wohl seiner Compagnie auszeichneten – immer mit Neugier auf relevante Traditionen, starker Disziplin und einem tief verwurzelten Glauben an das Theater als großartiges Fest.
Roland H. Dippel
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