Berichte
Eisig, unerbittlich, humorfrei
Schostakowitschs „Die Nase“ an der Bayerischen Staatsoper
Mit schwerer Kost hat Serge Dorny seine Intendanz an der Münchner Staatsoper begonnen. Kirill Serebrennikov inszenierte Schostakowitschs „Die Nase“ unerbittlich aus der Ferne, Vladimir Jurowski schaffte unheimliche musikalische Nähe. Ein fordernder, lohnender Abend.
Die Polizisten sind überall. In Kirill Serebrennikovs Münchner Staatsoperninszenierung scheinen sie die Bevölkerungsmehrheit St. Petersburgs zu stellen. In Eiseskälte – vergebliche Schneeräumkommandos ziehen sich durch den ganzen Abend – kümmern sie sich um Fälle aufgefundener Leichenteile; einmal in Gewahrsam genommen, wird mit mutmaßlichen Delinquenten kurzer Prozess gemacht; heißt in diesem Fall: Nase ab. Auch der Urheber eines kritischen Graffitos wird noch vor Ort brutal verprügelt und „entnast“.
Foto: Wilfried Hösl
Im Vergleich zum Libretto und zu Gogols grotesk-komischer Erzählvorlage ist die Situation für den bedauernswerten Kovaljov in diesem Polizeistaat also eine verschärfte. Das plötzliche Fehlen der Nase ist für ihn nicht einfach ein gesellschaftlicher Gesichtsverlust, er rutscht vielmehr komplett die soziale Leiter in eine Schicht hinunter, der man – so Serebrennikovs ganz aktuell gemeinter, mit Videoeinspielungen unterstrichener Befund – im heutigen Russland auf keinen Fall angehören möchte. Äußeres Merkmal ist hierfür die polsternde Leibesfülle, der Kovaljov zusammen mit seiner Nase verlustig geht.
Nicht alle Details der Inszenierung überzeugen gleichermaßen. So ist etwa die Vielnasigkeit der meisten Figuren – Serebrennikov treibt die Bedeutung als soziales Distinktionsmerkmal auf die Spitze – aus der Entfernung kaum zu erkennen. Auch muss man damit leben können, dass er sich in seiner eisigen, konsequent humorfreien Lesart ganz bewusst über die originale Szenenfolge hinwegsetzt; eine sorgfältige Lektüre seiner Handlungsversion im Vergleich zur originalen empfiehlt sich vorab, um sich nicht im Abgleich der Übertitel mit der Szenerie zu verlieren.
Dabei nimmt er sogar einen erheblichen Eingriff vor: Die Begegnung Kovaljovs mit der nun als höhergestellte Persönlichkeit selbstständig durch die Stadt geisternden Nase in einer Kathedrale findet hier nicht früh im Stück, in der siebten Szene statt, sondern erst später. So kulminiert der sein Publikum bewusst überfordernde Abend in dem Moment, als Kovaljov, zurück auf der Wache, seine Nase in der Fernsehübertragung des Weihnachtsgottesdienstes sieht. Leibhaftig auftretend ist sie dann niemand anderes als ein aalglatter, Kovaljovs Verzweiflung ungerührt wegargumentierender Politfunktionär. Bitterer kann ein szenischer Kommentar auf Russlands lupenreine Demokratie kaum ausfallen. Die frommen Hintergrundgesänge, einer der wenigen lyrischen Haltepunkte in der atemlosen, mit musikalischen Sarkasmen brutal um sich werfenden Partitur, liefern den zynischen Soundtrack dazu.
Weitere Verschnaufpausen sind das Lied Ivans – bei Serebrennikov folkloristisch glitzernder Balalaika-Kitsch auf dem Weihnachtsmarkt – und das die mittelalterliche Hoquetus-Technik aufgreifende Zeitungsannoncen-Quintett, das hier natürlich von schneeflockenumtost bibbernden Polizisten angestimmt wird. All das ist beim neuen GMD Vladimir Jurowski und dem grandios aufspielenden Staatsorchester in kompetenten Händen. Die Koordinationsleistung ist enorm, manche Streicherpassage könnte man sich weniger pastos, manche Bläserpassage rhythmisch geschärfter vorstellen. Das Kabinettstück der Partitur, das reine Schlagzeugintermezzo, mit dem Schostakowitsch Musikgeschichte geschrieben hat, wird szenisch zelebriert, indem die Musiker gleichsam als Sondereinsatzkommando, von hinten grell beleuchtet, die schiefe Ebene heruntergefahren kommen – die Schneeräumer tanzen dazu.
Sergei Leiferkus als Ivan Jakovlevic. Foto: Wilfried Hösl
Gesungen wird durchweg bravourös, wobei bei den unüberschaubar vielen Rollen einmal mehr die Staatsopern-Qualität in der Ensembletiefe sowie die Chorleistung zu bewundern ist. Boris Pinkhasovich leistet als Kovaljov Übermenschliches, Sergey Skorokhodov flößt als Nasentenor schaurige Ehrfurcht ein. Sergei Leiferkus ist für den Jakovlevic ebenso eine Luxusbesetzung wie Laura Aikin für die Praskovja oder Doris Soffel für die Alte Dame. Die darf sich als todessüchtige Filmdiva im offenen Sarg herumtragen lassen.
Nach zwei Stunden pausenloser, unerbittlicher Regiekonsequenz – für den in Russland unter Hausarrest stehenden Serebrennikov übernahm Evgeny Kulagin die Umsetzung vor Ort – schlägt die Stimmung noch einmal komplett um: Mitten hinein in Kovaljovs Silvesterfreude über den wiedergewonnenen Nasen- und Körperumfang schiebt sich von links und rechts ein mit Projektionen bevölkertes Mietshaus auf die Bühne. Zu den desolaten Klängen aus Schostakowitschs achtem Streichquartett beobachten wir einsame Menschen hinter den Scheiben; beinahe übersieht man, dass sich im letzten Fenster rechts oben jemand erhängt hat, ein düsteres Echo jener Szene, in der Kovaljov – eine weitere Umdeutung Serebrennikovs – in letzter Sekunde vom Teufel persönlich vor dem Strick bewahrt wird.
Am Ende scheint Kovaljov noch ein Mädchen mit in die Wohnung locken zu wollen – gespenstischer Schlusspunkt hinter eine gespenstische, am Ende von einigen schnell verlassene, von der Mehrheit aber kurz und heftig bejubelte Produktion.
Juan Martin Koch
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