Hintergrund
Klangliche Homogenität
Anne Kohler, Künstlerische Leiterin des neu gegründeten Bundesjugendchors im Gespräch mit Katharina Herkommer
Ende August gab der neugegründete Bundesjugendchor unter der Leitung von Anne Kohler, Professorin für Chorleitung an der Hochschule für Musik Detmold, sein erstes Konzert im Rahmen des Musikfests Berlin. Der Titel des Programms: „Alpha & Omega“, heißt ebenso wie das im Konzert gesungene Werk von James MacMillan. Ziel der Neugründung war es, ein Ensemble gleicher struktureller und repräsentativer Ebene wie das Bundesjugendorchester zu etablieren. Der Deutsche Jugendkammerchor, wurde deshalb vom Bundesjugendchor abgelöst, der in der Projektverantwortung des Deutschen Musikrats steht. Die Ansiedlung des Ensembles im Familienministerium garantiert eine kontinuierliche finanzielle Absicherung. Das erste Konzert sollte schon 2020 stattfinden.
Gründungskonzert des Bundesjugendchors in der Berliner Philharmonie. Foto: Peter Adamik
Doch Corona machte den ursprünglichen Plänen einen Strich durch die Rechnung. Unter strengen Hygieneauflagen fand im März 2021 nun die erste Probenphase des Chores statt – mit großen Abständen zwischen den Sängerinnen und Sängern. Vor dem ersten Konzert sprach Katharina Herkommer mit Anne Kohler, der Künstlerischen Leiterin des Bundesjugendchores.
Katharina Herkommer: Bundesjugendchor – warum erst jetzt? War es nicht höchste Zeit?
Anne Kohler: Ja, es war höchste Zeit. Es gab zuvor aber schon den Deutschen Jugendkammerchor, der die gleiche Funktion erfüllt hat und dessen Mitglieder zum Teil jetzt auch im Bundesjugendchor singen.
Herkommer: Dass der Chor jetzt ein Projekt des Deutschen Musikrats ist und direkt vom Ministerium unterstützt wird: Gibt ihm das eine andere Legitimation?
Kohler: Ich finde es sehr schön, dass der Deutsche Musikrat den Bundesjugendchor bei sich beheimatet, aber ich glaube, vom Prinzip her ist es dasselbe Ziel, nämlich auf einem möglichst professionellen Niveau mit sehr jungen Sängerinnen und Sängern Musik zu machen.
Herkommer: Was hat Sie an dieser Position der Künstlerischen Leitung gereizt? Sie haben als Professorin in Detmold sicher genug zu tun…
Kohler: Das stimmt, ich habe genug zu tun. Detmold ist eine wunderbare Hochschule; dort leite ich zwei Ensembles, mit denen ich sehr viel Freude habe. Aber die Möglichkeit, mit jungen Menschen aus ganz Deutschland überregional zu arbeiten, fand ich sehr attraktiv. Natürlich bin ich die Arbeit mit Studierenden gewohnt. Es ist gerade diese Altersgruppe, die schon sehr viel kann, aber auch in ganz kurzer Zeit noch sehr viel dazu lernt, mit der das Arbeiten sehr erfüllend ist.
Herkommer: Das Alter der Teilnehmenden liegt etwas über dem des Bundesjugendorchesters, es geht ab 18 Jahren los. Trotzdem durften sich nicht nur Gesangsstudierende bewerben. Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Mischung aus jungen Menschen, die das Singen als Hobby haben, und denen, die es zum Beruf machen wollen?
Kohler: Ja, das ist eine sehr kluge Entscheidung, weil letztendlich stimmliche Qualität, Musikalität und Ensembleerfahrung zählen. Es sind nicht immer die Gesangsstudierenden, die davon am allermeisten mitbringen. Es gibt ja auch sehr viele Schul- und Kirchenmusiker/-innen in dem Chor und eben einige wenige Sängerinnen und Sänger, die Medizin, Jura oder etwas anderes studieren, die aber dadurch viel Ensembleerfahrung haben, dass sie zum Beispiel aus einem Knabenchor kommen oder aus tollen Mädchenchören. Das kann man nicht über einen Kamm scheren. Beim Vorsingen trennt sich dann die Spreu vom Weizen, egal, ob jemand Gesang studiert oder nicht. Es haben auch Gesangsstudierende vorgesungen, die wir nicht genommen haben.
Herkommer: Haben also tatsächlich diejenigen, die nicht von Anfang an den Fokus auf die Solistenkarriere gelegt haben, mehr Chorerfahrung, weil sie es vielleicht lockerer genommen haben?
Kohler: Das würde ich so verallgemeinernd gar nicht sagen. Es gibt ganz tolle Gesangsstudierende, die wunderbare Ensemblesänger sind. Dann gibt es unter den Gesangsstudierenden aber auch solche, deren Stimmen nicht so ausgebildet sind, dass sie (noch gut) integrierbar wären. Und auch ziemlich viele, die einfach nicht gut genug vom Blatt lesen – oder die im Ensemble nicht sensibel genug agieren.
Herkommer: Warum würden Sie es Studierenden raten, sich einem Ensemble anzuschließen?
Kohler: Ein solches Ensemble hat dadurch, dass es sich nur punktuell trifft, in dieser Phase, in der man sich trifft, unglaublich viel Energie. Die Sängerinnen und Sänger bekommen Hausaufgaben auf und bereiten die Sachen zu Hause sehr gut vor. Sie werden hier durch Registerproben und intensive Stimmbildung unterstützt. Man kann ein Netzwerk über ganz Deutschland knüpfen, man kann sich austauschen – es sind auch einige Chorleitungsstudierende in dem Ensemble – und mitbekommen, was an anderen Hochschulen läuft. Darüber hinaus ist es vor allem das Gefühl, dass ich, wenn ich hier bin, alle Energie im gemeinsamen Singen bündeln kann. Dadurch erlebt man etwas, das im Hochschulalltag nicht immer möglich ist.
Herkommer: Sie haben ein besonderes Programm zusammengestellt, eine Abwechslung aus Alter und Neuer Musik. Haben Sie bei der Programmauswahl ganz freie Hand?
Kohler: Ja, ich habe hier vollkommen freie Hand. Das ist wunderbar. Ich denke, wir werden uns für die nächsten Jahre jeweils ein Thema setzen, aber für dieses Konzert war es mir wichtig, das Stück „Alpha & Omega“ mit ins Programm zu nehmen. Das heißt, es gibt ein Ende des Deutschen Jugendkammerchores und einen Anfang des Bundesjugendchores. Die „Fest- und Gedenksprüche“ von Johannes Brahms sind auch ein passender wunderbarer Programmpunkt, weil sie so würdevoll und feierlich klingen. Zwischendurch singen wir viel Neue Musik. Ich denke, dass es gerade für ein solches Ensemble sehr wichtig ist, in verschiedenen stilistischen Bereichen sehr detailliert zu erarbeiten, worauf es jeweils ankommt.
Herkommer: Wird die Neue Musik in den Hochschulen nach wie vor ein wenig stiefmütterlich behandelt?
Kohler: Ich möchte das auf jeden Fall im Bundesjugendchor gezielt fördern. Ich glaube, dass die Neue Musik ganz unterschiedlich stark an den einzelnen Hochschulen behandelt wird. Das kann man nicht verallgemeinern.
Herkommer: Sie haben vorgeschlagen, dass der erste Kompositionsauftrag für den Bundesjugendchor an Kathrin Denner gehen könnte. Warum hielten Sie sie für geeignet?
Kohler: Ich hatte ein Stück von ihr gehört, das die Schola Heidelberg aufgeführt hat. Das fand ich sehr interessant, habe dann mit ihr telefoniert und dachte, dass es passen könnte. Natürlich lag das Corona-Thema auf der Hand. Sie hat ein Stück geschrieben, das den Titel „Innen“ trägt. Es geht um die Beklemmung, um das Nach-Innen-Horchen, um die Vereinzelung des Menschen. Darum, wie Menschen sich in der Isolation verhalten und wie sie sich fühlen. Das ist aus meiner Sicht ein sehr konsequentes und ausdrucksstarkes Stück geworden.
Herkommer: Hat Sie bei der ersten Probenphase etwas überrascht oder besonders gefreut?
Kohler: Mich hat wahnsinnig gefreut, dass man überhaupt wieder singen kann. Wir sitzen ja alle auf dem Trockenen, sowohl die Sänger als auch die Chorleiter. Es hat mich sehr gefreut, dass die ersten Töne dieses Chores mitten im harten Lockdown möglich waren. Dann hat mich sehr gefreut, dass die Sängerinnen und Sänger so gut sind. Wir haben ein paar Tage gebraucht, um in eine klangliche Homogenität zu kommen. Aber dann hat es einen Schub gegeben.
Herkommer: Jetzt kommen die ersten Konzerte: Sind Sie da auch ein wenig ausgedörrt – nach anderthalb Jahren Pandemie?
Kohler: Ich habe normalerweise zwischen zwanzig und dreißig Konzerte im Jahr, und jetzt hatte ich eins – im letzten September. Das ist sehr ungewöhnlich, man kommt auch ein wenig aus der Übung – aus der Übung im Proben, aber auch aus der Übung im Konzertieren. Das tut nicht gut. Umso schöner, dass es jetzt wieder losgeht.
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