Kulturpolitik
Auf ein Wort mit...
... Viktor Schoner, Intendant der Staatsoper Stuttgart
Im Gespräch mit Barbara Haack und Tobias Könemann
Viktor Schoner, Jahrgang 1974, ist in Aschaffenburg aufgewachsen. Gemeinsam mit Titus Engel gründete der studierte Bratschist und Musikwissenschaftler die Akademie Musiktheater Heute, die seit 2001 als Initiative der Deutschen Bank fortgeführt wird. Im Frühjahr 2001 begann er als persönlicher Referent des Intendanten Gerard Mortier und dramaturgischer Mitarbeiter bei den Salzburger Festspielen. In gleicher Funktion wechselte er mit an die Ruhr, um dort von 2002 bis 2004 gemeinsam mit Mortier die erste RuhrTriennale in den Industriekathedralen der Region zu entwickeln. Von 2004 bis 2008 war er an der Opéra national de Paris tätig, von 2008 bis 2017 Künstlerischer Betriebsdirektor an der Bayerischen Staatsoper. Seit der Saison 2018/2019 ist Viktor Schoner Intendant der Staatsoper Stuttgart. Barbara Haack und Tobias Könemann führten mit ihm ein Gespräch für „Oper & Tanz“.
Oper & Tanz: Gestern Abend [am 1. 11.] fand bei Ihnen die Premiere „Die Verurteilung des Lukullus“ von Paul Dessau und Bertolt Brecht statt. Wie war‘s?
Viktor Schoner: Das war toll, ich bin noch ein bisschen euphorisch. Diese Premiere war für uns eine störrische Angelegenheit. Ursprünglich war sie geplant für eine Spielzeit, die sich um „deutsche“ Themen drehen sollte; wir wollten sie mit „Frau ohne Schatten“ und mit Schumanns „Faust-Szenen“ verbinden, ein bisschen deutsche Seele. Das hat uns Corona zerschossen, aber mir war es wichtig, dieses Projekt zu halten.
Viktor Schoner. Foto: Matthias Baus
Aber dieser „Lukullus“ bleibt natürlich ein schwieriges Stück, deswegen war ich sehr positiv überrascht: Das Haus war so gut wie ausverkauft, und das Publikum hat sehr euphorisch reagiert. Mit dabei war unser tolles Gesangsensemble – und der Staatsopernchor hat sich wieder von seiner besten Seite gezeigt. Dirigiert hat Bernhard Kontarsky, wirklich einer der ganz Großen der Neuen Musik. Sehr bewusst haben wir ihn mit „Hauen und Stechen“ konfrontiert, einem Theaterkollektiv aus Berlin, das inszeniert hat. Das ist eine zumindest interessante Konstellation. Manchmal geht so etwas total schief, und manchmal geht es auf. Gestern ging es gut. Die Stimmung war super nach der Vorstellung.
O&T: Die Oper hat durchaus eine politische Botschaft. Wie politisch soll oder muss Musiktheater sein in der heutigen Zeit? Wie gesellschaftlich engagiert – oder eben auch nicht?
Schoner: Das sind ja zwei Begriffe: Tagespolitisch sind wir sicherlich nicht. Wir sind immer jenseits der Realität, das macht ja Oper so spannend. Nach etwa einer Viertelstunde befinden wir uns bei „Lukullus“ im Totenreich. Das ist einerseits sehr realistisch, weil da wie in einem Prozess ein Feldherr mit seinen Schandtaten konfrontiert wird. Andererseits sind wir durch dieses Jenseits sofort in einem unrealistischen Setting, das entfernt uns schon von dieser tagespolitischen Frage.
Die Frage, ob wir hier in Stuttgart gesellschaftlich engagiert sind, stellt sich wiederum gar nicht. Wir können ja gar nicht anders. Gerade hier gibt es eine Tradition, wo Jossi Wieler vor 15 Jahren selbst aus einer Belcanto-Oper wie „La Sonnambula“ politisch engagiertes Theater gebaut hat. Die Künstlerinnen und Künstler, mit denen wir in Stuttgart arbeiten, sind Leute, die nicht im luftleeren Raum arbeiten oder aufgrund einer „déformation professionelle“ seit Jahrzehnten nur in einem Opernproberaum sitzen.
O&T: Uns ist aufgefallen, dass Ihr Spielplan relativ konventionell ist. Wollen Sie einen konventionellen Spielplan lebendig und mit neuen Lösungen präsentieren?
„Verurteilung des Lukullus“ mit Ensemble, Staatsopernchor und Statisterie der Staatsoper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund
Schoner: Die Ambition, dass man ganz fein ziselierte dramaturgische Spielpläne baut, hat uns Corona gehörig ausgetrieben. Die letzten beiden Jahre waren ursprünglich anders gedacht. Wir machen jetzt im Januar zum Beispiel „Juditha triumphans“, eigentlich für März 2020 geplant. Das ist sicher kein Standardrepertoire und so ein tolles Stück, nur mit Frauen besetzt.
Wir fangen außerdem einen neuen „Ring“ an. Das ist, da haben Sie Recht, nicht per se unkonventionell. Wenn dann aber drei unterschiedliche Teams die drei Aufzüge der „Walküre“ inszenieren, dann würde ich schon fragen: Was heißt das eigentlich, konventionell oder unkonventionell? Das ist doch eine interessante Frage.
O&T: Ihr Spielzeitmotto heißt „Weißt du, wie das wird?“ Haben Sie sich das vor Corona oder wegen Corona ausgedacht?
Schoner: Corona ist uns – bei aller guten Laune – ganz schön an die Nieren gegangen. Wir waren ja zeitweise richtig hyperaktiv, mit 1:1-Konzerten, digitalen Formaten und vielen anderen Ideen. Wir haben unser Repertoire geändert, das war richtig viel Arbeit. Deswegen hat uns Corona durchaus mitgenommen. Als wir unsere Spielzeit veröffentlicht haben, wussten wir gar nicht was kommen wird. Die Frage lautete wirklich: „Weißt du, wie das wird?“
Unsere Kernaufgabe ist es, konventionelle Stücke zu machen: Sänger auf der Bühne, Orchester im Graben. Trotzdem treibt uns die Frage um, wie man Oper auch als Genre zukünftig denkt. Unsere Ringkonzeption zum Beispiel geht schon sehr gegen diesen Geniekult, gegen den „alten weißen Mann“. Wir machen den Ring nicht mit Herheim oder mit Tcherniakov, sondern wir haben für die vier Abende verschiedene Ansätze – einer davon, der 20 Jahre alt ist, ist von Jossi Wieler. Die „Walküre“ machen wir mit drei verschiedenen Teams: jeder Akt ein eigenes Team. Die Frage „Weißt du, wie das wird?“ hat viel damit zu tun, wie die Gesellschaft wird, aber auch wie wir unsere Institutionen zeitgenössisch angehen.
O&T: Wie weit arbeiten die einzelnen Regisseure und Regisseurinnen bei diesem Ringkonzept miteinander?
Schoner: Es gibt erstmal kein Gemeinsames. Gerade bei der „Walküre“ entwickeln sich aber einige Elemente, die alle drei Teams umtreiben. Inzwischen wissen alle, wie ihre eigene Konzeption aussieht, so dass jetzt auch wieder eine Offenheit entsteht, den anderen Teams zuzuhören und gegebenenfalls doch aufeinander zu reagieren. Aber bewusst hat jeder erst einmal seine eigene Sache gemacht. Bei der „Walküre“ ist das ja dramaturgisch nachvollziehbar. Diese drei Akte erzählen ganz unterschiedliche Geschichten.
O&T: Sie sind in Stuttgart unter anderem mit dem Ansinnen angetreten, Oper zu öffnen. „Oper für alle“ war das Stichwort. Wie machen Sie das?
Schoner: Das ist kompliziert. Heute würde ich das auch modifizieren zu „Oper – vielleicht nicht für alle, aber für möglichst viele“. Ich glaube, es ist gelogen, dass man Oper für alle machen kann. Was diesen Aspekt angeht, hat uns Corona fast geholfen, weil unser Haus mit 1.400 Plätzen plötzlich keine Rolle mehr gespielt hat und wir neue Formate finden mussten. Stattdessen haben wir Operette am Hafen gemacht, eine „Zauberflöte“ im Autokino, tausende 1:1-Konzerte in der ganzen Stadt. Das hat uns eine größere Nähe zur Stadtgesellschaft ermöglicht. Das Staatsorchester unter Cornelius Meister hat alle Corona-kompatiblen Beethoven-Symphonien gespielt, da gab es bis zu drei Konzerte am Tag, weil immer nur 100 Leute kommen durften, die dann aber ganz nah am Orchester sitzen konnten. Das wäre im Alltag unmöglich gewesen, aber es hat die Schwellenangst genommen, weil die Räume andere waren. Insofern gab es eine gewisse Nähe, auch zu einem neuen Publikum.
„Juditha triumphans“ mit Alexandra Urquiola als Ozias und dem Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Martin Sigmund
Womit wir jetzt schon seit zwei Jahren experimentieren: Wir arbeiten zusammen mit Max Herre, dem Sprachkünstler und Rapper. Das ist ja durchaus ein Intellektueller – und eine Person, die hier in der Stadtgesellschaft absolut wirkt. Mit dem haben wir einen Jazz-Abend gemacht, außerdem einen Abend gemeinsam mit Schorsch Kamerun über Deutschland, inspiriert von Heinrich Heine. Das sind Crossover-Formate, die hier unglaublich gut funktionieren, inhaltlich-dramaturgisch, und auch fürs Publikum. Mit Maeckes, Kopf der Rap-Combo „Die Orsons“, haben wir ein Release-Konzert zu seinem neuen Album gemacht. Das schafft eine Öffnung, die sehr wichtig ist. So muss man Oper oder Musiktheater weiterdenken.
O&T: Sie haben das Stichwort Stadtgesellschaft genannt, die ja in Stuttgart eine ganz besondere ist. Ursprünglich mal sehr konservativ, dann gab es spätestens mit Stuttgart21 eine sehr starke grüne Bewegung. Jetzt ist Stuttgart wieder eines der Zentren, leider – muss man sagen – der sogenannten Querdenkerbewegung. Man hat den Eindruck, dass die Stadt brodelt. Macht sich das bei Ihnen bemerkbar, auch im Wechselspiel zwischen der Oper und der Stadtgesellschaft?
Schoner: Ich war ja lange in Paris, aber auch in München, und ich komme aus Aschaffenburg. Auf bayerisch würde man sagen: Die „granteln“ viel – aber sie haben ihre begründete Meinung. Dennoch gibt es viele Hinterzimmer, da trinkt man sein „Viertele“ – und da wird Meinung gemacht. Es ist schwer, das zu spüren. Es gibt keine Mainstream-Meinung. Das macht die Sache wahnsinnig aufregend und gleichzeitig wahnsinnig anstrengend.
O&T: Diese Stadtgesellschaft hat sich in die Diskussion um die Sanierung immer wieder eingemischt. Hilft Ihnen das, oder läuft es eher in die falsche Richtung?
Schoner: Die Stadtarchitektur hat hier ihre Schwierigkeiten. Was es nicht gibt, ist so etwas wie die Ludwigstraße in München, also eine aristokratische Achse. Aber die Stadt hat sehr schöne Ecken. Die Sanierung muss sein, es gibt überhaupt keine Alternative. Abriss ist keine Option wie zum Beispiel in Düsseldorf oder Frankfurt. Es ist baulich eines der besten Musiktheater der Welt – das Verhältnis von Zuschauerraum zur Bühne ist toll gemacht. Die Sanierung muss einfach gemacht werden. Basta! Alle Leute, die über andere Nutzungen oder Neubau nachgedacht haben, haben nicht zu Ende gedacht. Die hatten den Traum, dass, wenn man das schon angeht, man auch gleich noch ganz Stuttgart verschönern könnte. Da gab es einen Bürgerverein, der nannte sich „Aufbruch Stuttgart“. Die wollten die Sanierung nutzen, um diese Stadt städtebaulich wirklich anzugreifen, was sinnvoll wäre.
Inzwischen ist beschlossen, dass die Sanierung kommt, so dass wir in Ruhe arbeiten können. Was mich jetzt umtreibt, ist die Frage: Wie soll ein Opernhaus 2040 überhaupt aussehen? Wir müssen doch keine Gebäude für Millionen von Euros sanieren, wenn wir nicht wissen, was wir da drin tun. Aber wenn es ein Publikum gibt für einen Abend wie gestern, dann bin ich bester Dinge, dass es sich lohnt, dass wir das Haus sanieren.
O&T: Sie arbeiten in Stuttgart in einer Art Direktorium, mit Führungspositionen auf Augenhöhe in den einzelnen Bereichen. Wie funktioniert das?
Schoner: Es funktioniert ganz gut. Man muss allerdings nicht meinen, dass, wenn es keinen Generalintendanten gibt, damit dann alle Probleme gleich gelöst wären. Da entstehen andere. Das Stuttgarter Modell hat unglaublich viele Stärken, wir kommen sehr gut klar. Ich musste mich am Anfang ein bisschen reinfuchsen, in München und Paris war es anders. Inzwischen habe ich das liebgewonnen. Es ist nicht so, dass wir vier Intendanten immer einer Meinung wären oder die gleiche Ästhetik verfolgen. Oper, Ballett und Schauspiel verfolgen hier traditionell völlig verschiedene Ästhetiken. So verschieden, dass die Arbeit für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Werkstätten hoffentlich immer kurzweilig bleibt.
Die Intendanten-Kollegen und ich treffen uns zweimal in der Woche, wir besprechen sehr viel, und auch gegenüber der Politik treten wir geschlossen auf. Aber es ist auch viel Arbeit.
O&T: Derzeit wird heftig über die Macht der Intendanten diskutiert, die ganz unterschiedlich gelebt oder eben nicht gelebt wird. Fördert Ihr Modell die Vermeidung einer Übermacht, die mancherorts zu beobachten ist?
Schoner: Irgendwie schon: Wir sind immer zu viert, und wir vier müssen mit dieser geteilten Macht umgehen. Ausgerechnet vier Männer, das hat sich so ergeben. Aber allein, dass wir zu viert sind, ist vermutlich schon gesund für ein Haus. Dass gleichwohl jeder Intendant anders mit diesem Thema umgeht, liegt auch in der jeweiligen Persönlichkeit begründet. Aber natürlich haben wir alle das Ziel, uns an den Verhaltenskodex des Bühnenvereins zu halten. Dennoch sind die Hierarchien im Tanz zum Beispiel andere als im Musiktheater, und das Schauspiel tickt auch wieder anders als die Oper. Manchmal tut es dem Organismus auch gut, wenn jemand schnell und klar entscheidet. Das ist gar nicht so einfach, aber manchmal wird es erwartet. Ich kenne viele Kollegen, die sagen, dass bei ihnen alles super laufe und sie mit Machtmissbrauch keine Probleme hätten. Wenn Machtmissbrauch ein Thema wäre, dann wüssten sie das ja. Aber so ist es eben nicht. Das ist eins der Probleme, dass man vieles einfach nicht weiß als Intendant. Das kann man als Schwäche auslegen, aber es ist die Realität. Wir müssen wach bleiben, damit werden wir uns immer wieder beschäftigen müssen.
O&T: Sie haben auf die vier Männer an der Spitze hingewiesen. Es fällt auf, dass Sie in dieser Spielzeit eine ganze Reihe von Dirigentinnen engagieren. Ist das das Programm?
Schoner: Ich finde, das ist eher ein Nicht-Thema. Könnten diese Frauen nicht dirigieren, würden sie auch nicht arbeiten.
O&T: Die sind also nicht bei Ihnen, weil sie Frauen sind, sondern weil sie künstlerisch überzeugen?
Schoner: Ja, unser Metier ist traditionell in der Führung sehr männlich geprägt, inzwischen gibt es Dirigentinnen, natürlich auch Regisseurinnen. Wenn wir das Thema schon angehen: In der Spielzeit, die uns dann zusammengebrochen ist, hatten wir bei fünf Neuproduktionen vier Teams, die weiblich geprägt waren. Da braucht es keine Quote, da braucht es einfach Intendantinnen und Intendanten, die Frauen engagieren. Wir müssen eine Balance herstellen.
Littmann-Bau: baulich eines der besten Musiktheater der Welt. Foto: Matthias Baus
Die Wahrheit ist, dass diese Dirigentinnen sich gerade vor Angeboten nicht mehr retten können, da gibt es gerade eine Art Überhitzung. Da muss man auch wieder aufpassen. Nur weil sie Dirigentinnen sind, passen sie noch lange nicht in jede künstlerische Konstellation. Ich glaube, wir müssen das ganze System, in dem wir arbeiten, durchlässiger machen, damit es wirklich einen neuen Blick gibt.
O&T: Wir haben über Corona gesprochen. Wie sehen Sie die Zukunft der Theaterfinanzierung? Die große Sorge ist derzeit, dass, wenn die Haushalte wieder konsolidiert werden, die Kultur als erstes dran glauben muss. Befürchten Sie das für Stuttgart, und wie sehen Sie das über Stuttgart hinaus?
Schoner: Insgesamt müssen wir wach sein. Wir müssen ehrlich sagen, dass wir 15 Jahre verschont waren von Budgetkürzungen. Die deutsche Wirtschaft brummte, und das kam bei uns auch an. Die Welt hier in Stuttgart ist ja noch ganz in Ordnung. Es gibt ein grundlegendes Verständnis für die Relevanz von Kultur, das jedoch jeden Tag hinterfragt werden könnte, das erleben wir bei der Sanierung.
Derzeit sehe ich eher ein Land-und-Stadt-Thema. Die CDU in Baden-Württemberg hat keinen Abgeordneten aus Freiburg, Stuttgart, Karlsruhe, Mannheim. Die kommen alle aus dem sogenannten ländlichen Raum, und das spüren wir.
Wenn wir dann mitten in der Hauptstadt für eine Milliarde eine Immobilie sanieren wollen, wird dieser Unterschied ein Thema. Die Grünen haben sich aber natürlich in der Kulturpolitik eine großartige Expertise erarbeitet – und der grüne Ministerpräsident ist bekennender Opernfan.
O&T: Die Kulturministerin, auch grün, ist nicht unbedingt die große Befürworterin der Hochkultur.
Schoner: Sie ist seit 2011 eine große Wissenschafts- und Innovationsministerin und hat an ihrer Seite eine Staatssekretärin, die aus der Kultur kommt.
Die Crossover-Geschichten, von denen ich erzählt habe, stoßen da auf riesiges Interesse. Die größten weltanschaulichen Diskussionen habe ich mit vielen Vertretern aus der Politik nach Wagner-Aufführungen.
O&T: Problematisch ist es aber, wenn Politiker sich inhaltlich einmischen, je nachdem, was sie schätzen oder nicht schätzen.
Schoner: Wir machen unser Ding. In der Frage der Relevanz könnten die kommenden fünf Jahre aber wichtiger werden als die letzten fünfzehn. Wir müssen uns ja jetzt schon ständig überlegen, wie man es schafft, dass wir mit dem öffentlichen Geld, das wir zur Verfügung haben, einer Stadtgesellschaft gegenüber Relevanz zeigen.
Sicher müssen wir uns warm anziehen, aber vor allem müssen wir uns selbst darum kümmern, dass die Gesellschaft es wichtig findet, dass es uns gibt. Die Politik ist getrieben von ihren Wählern. Ausruhen ist nicht.
O&T: Wenn Sie nicht ausruhen, sind Sie dann trotz der coronabedingten Plünderung öffentlicher Kassen und der wirtschaftlichen Entwicklung guten Mutes?
Schoner: Ich bin sehr guten Mutes. Die kulturpolitische Frage sollte doch eher dahin gehen, was die finanzielle Balance innerhalb der Häuser betrifft. Es gibt die unterschiedlichsten Tarifverträge in solchen Häusern wie unseren: dass der Chorist mehr verdient als der Solist, dass die Finanzabteilung mehr verdient als jeder Tänzer, und das ein Leben lang, der Tänzer aber nur wenige Jahre… Das ist nicht geklärt.
O&T: In diesen Fragen arbeiten wir als Gewerkschaft intensiv mit dem Bühnenverein zusammen. Da sind wir manchmal, auch wenn wir Tarifgegner sind, kulturpolitische Partner. Dass künstlerisch Beschäftigte immer noch, was die Arbeitsbedingungen, was die Bezahlung angeht, viel schlechter da stehen als andere Menschen, auch die im Öffentlichen Dienst, ist ein Dauerbrennerthema. Das ist historisch so tief verwurzelt, dass es immer nur in kleinen Schritten geht. Das Wesentliche ist der Punkt, den Sie ansprechen, die Relevanz in der Gesellschaft. Wird man tatsächlich als notwendig erachtet oder nicht? Das ist der Hebel.
Schoner: Das ist eine weitere komplexe Frage. Was heißt re-
levant? Es hieß hier in Stuttgart: Sanierung nur für die „happy few“, also die Opernbesucher? Aber bei 280.000 Zuschauern im Jahr in einer Stadt von 600.000 kann man ja nicht behaupten, es wären „happy few“. Ist der Taxifahrer stolz, dass es das Stuttgarter Ballett gibt, obwohl er noch nie im Opernhaus war? Es ist kompliziert. Da muss man den Politikern manchmal einen Steigbügel geben, damit sie nicht auf das falsche Pferd setzen.
O&T: Da kommen wir auf ein allgemeines Thema, das auch bei Ihnen nicht ganz irrelevant ist: Der Eintrittspreis in ein Theater für einen ordentlichen oder guten Platz ist überproportional zum normalen Haushaltseinkommen gestiegen. Sehen Sie da die Gefahr prohibitiver Wirkungen?
Schoner: Ich bin natürlich München und Paris gewohnt – da sind die Preise deutlich höher als hier in Stuttgart. Je nach Repertoire verkauft sich bei uns die beste Kategorie zuerst; es gibt anderes Repertoire, das verkauft sich von hinten. Solange wir – und das tun wir ja – bezahlbare Plätze anbieten, Tickets, die billiger sind als das Kino, können wir auch die teuren Plätze verkaufen. Ein anderes Thema sind Jugendliche, die immer nur im dritten Rang sitzen, für zehn Euro, und die dadurch ein anderes Theatererlebnis haben, als wenn sie im Parkett säßen. Die müssen auch die Gelegenheit haben, mal ganz nah dran zu sein – das gehen wir verstärkt an. Ich bin außerdem aber auch Verfechter des altmodischen Abonnements, da gibt es echte Preisvorteile. Es ist doch überhaupt nicht altmodisch, sich in der Saison vier Termine in den Kalender zu schreiben und in die Oper zu gehen.
O&T: Zurück zum Thema Sanierung. Für einen langen Zeitraum müssen Sie in eine Ersatzspielstätte ausweichen. Die wird nicht dieselben technischen Voraussetzungen haben wie die Hauptspielstätte. Es gibt ein schönes Beispiel aus Köln, wo es eine fantastische Aufführung von „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann gab, in der Inszenierung von La Fura dels Baus. Für die war die Messehalle, in der schon seit vielen Jahren die Oper stattfindet, eine Sensation. Sehen Sie bei Ihrer Ersatzspielstätte auch eine Chance, Oper einmal ganz anders zu produzieren als in einem großen ehrwürdigen Haus?
Schoner: Das kann ich nur mit Ja beantworten. Es ist eine Chance rauszugehen, weil es einen anderen Blick auf dieses Genre
wirft. Ich war die ersten vier Jahre meines Berufslebens bei der Ruhrtriennale. Das sitzt sehr tief in mir. Die Dialektik der Hochkultur in diesen Industrieräumen finde ich immer noch spannend und zukunftsweisend. Insofern habe ich keine Angst davor. Und unsere Ersatzspielstätte ist, so wie sich das gerade abzeichnet, sehr viel besser vorbereitet, als es in Köln der Fall war. Es gibt jetzt einen Standort. Da soll ein mobiler Bau entstehen, der tatsächlich fast die gleichen technischen Möglichkeiten hat wie unser Haus. Bei allem Willen zum Experiment haben wir auch die Aufgabe, ein Repertoire zu präsentieren. Die Anforderung des Ballett-Kollegen Tamas Detrich war: Wir müssen John Crankos Handlungsballette tanzen können mit den komplexen Bühnenbildern von Jürgen Rose. Die Politik hat alles dafür getan, dass diese Ersatzspielstätte all den unterschiedlichen Anforderungen gerecht wird. Wir werden jetzt langsam damit anfangen, die Produktionen so zu bauen, dass wir sie auch mit in das Interim nehmen können. Ich sage auch der Politik: Wenn wir 2027 rausgehen, was jetzt avisiert ist, dann müssen die Staatstheater Stuttgart einen Blick in die Zukunft weisen. Es ist das falsche Narrativ, zu sagen: Wenn wir 2037 zurückziehen, dann geht die Zukunft los. Wir müssen mit dem Auszug Euphorie kreieren, auch mit neuem Publikum, mit neuen Zielstrukturen, mit neuer Kunst oder offeneren Genres. In einer Ersatzspielstätte ist da tatsächlich vieles leichter. Und wann auch immer der Littmann-Bau fertig saniert sein wird, ziehen wir gut gelaunt wieder zurück.
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