Rezensionen
Protestchöre: Kunst und Politik
Stefan Donath: Protestchöre – zu einer neuen Ästhetik des Widerstands. Stuttgart 21, Arabischer Frühling und Occupy in theaterwissenschaftlicher Perspektive. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. ISBN 978-3-8376-4405-0, 480 S. € 34,99
Dass Kunst und Politik durchweg miteinander verschränkt sind, muss immer wieder betont werden: Freude also über Stefan Donaths Thema. Doch der politisch mitdenkende Musikfreund muss im Untertitel die „theaterwissenschaftliche Perspektive“ beachten: Auf den 425 reinen Textseiten finden sich durchweg drei bis acht Fußnoten; auf 39 Seiten Literaturangaben führt Donath zwischen Platons „Staat“ und dem Politklassiker „Leviathan“ des Thomas Hobbes von 1651 und dem UNESCO-Social-Science-Report von 2016 so ziemlich „alles“ aus weltweiter Politikwissenschaft, Soziologie, Kultur- und Theatergeschichte an: etwa Max Weber, Jürgen Habermas, Peter Weiss, Michel Foucault neben Winckelmann und Schadewald und der die Dissertation betreuenden Berliner Professorin Erika Fischer-Lichte – die gleich mit 22 Titeln vertreten ist – bis zum „Unsichtbaren Komitee“ von 2010. Leider hat all dies den Autor zu einer Sprache verführt, die fatal dem überwunden geglaubten Soziologendeutsch der 1970er/1980er-Jahre gleicht – was allein schon zu Überschriften führt wie „Die Verzeitlichung der Geschichte in der Moderne“, „Auditive Körperlichkeit: Zur sensitiven Produktion des Lärms“, „Produktion von Aufmerksamkeit als lautliche Materialität des Chores“ und so weiter. „Clarté!“, möchte man als Leser dem Autor zurufen.
Stefan Donath: Protestchöre – zu einer neuen Ästhetik des Widerstands. Stuttgart 21, Arabischer Frühling und Occupy in theaterwissenschaftlicher Perspektive. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. ISBN 978-3-8376-4405-0, 480 S. € 34,99
Natürlich zeigt Autor Donath, dass er im Zeitalter der Digitalisierung angekommen ist: Zu den Protesten um „Stuttgart 21“ im Jahr 2010, in Kairo und „Occupy Wall Street“ 2011 führt er durchweg YouTube-Belege an. Das ist als wissenschaftliche Quellenangabe inzwischen akzeptiert. Doch heutzutage zunehmend eingeklagte Bild-, Ton- und Persönlichkeitsrechte können jederzeit zur Löschung des betreffenden Beitrags führen – wären da bei 480 Seiten Umfang nicht noch zwei Quellentext-Seiten mit dem Wortlaut dessen möglich, was in Stuttgart oder New York gesungen beziehungsweise skandiert wurde? Auch wenn schon seit langem – gipfelnd im Photoshop-Zeitalter – das Foto als verlässliche historische Quelle zunehmend verloren hat: Ein, zwei Bilder zu den stummen Protestchören im arabischen Raum hätten vieles an Donaths Beschreibungen ersetzt. Oder ist beim Leser von Heute das Buch in der einen Hand und das Smartphone
oder Tablet in der anderen selbstverständlich?
Wer von der Breite und Sprache nicht verschreckt aufgibt, bekommt ausgiebig zergliederte Analysen von Volker Löschs Chören 2010 in Stuttgart, ihre „dramatisierte Affektivität“ als Wutchor, in die „ästhetisierte Synchronität“ ihrer „brüchigen Sprachgewalt“ und ihre „affektive Resonanz“ als „Arbeit am Wir“. Der Einsatz von Lärm als Protest durch die „Schwabenchöre“ wird dargestellt. Auf zwei Seiten ist auch die allgemeinmenschliche und tiefenpsychologische Differenz zwischen „Wut“ und „Empörung“ dargelegt.
Verdienstvoll ist Donaths Darstellung und Analyse der hinter den Fernseh-Sequenzen von Gewalt und Gegengewalt im öffentlichen Bewusstsein fast untergegangenen stummen Protestchöre in Kairo: eine neue Form subversiver Proteststrategie als „stiller Widerstand“. Ob damit in „neue Räume der Artikulation“ vorgestoßen wurde, kann auch Donath nicht beantworten und behauptet: „Mit dem Verfahren des Chorischen drängten sie nicht allein darauf, die Weise ihres Erscheinens zu verändern, sondern die Wirkungsweise der Sphäre des Erscheinens selbst.“
Eindeutiger und realpolitisch ergiebiger ist Donaths Darstellung der „Occupy!“-Bewegung. Aus der „General Assembly“ im Zuccotti Park erwuchs der Gebrauch von massenhaften Handzeichen als performativer Gestik, als chorisch zeichenhafter Applaus oder stille Ablehnung. Spannend ist der Einsatz des „Human Mic“ seitens der Occupier. Ihnen war der Gebrauch von Megafonen untersagt worden, woraus sich die chorische Wiederholung des vom „Dirigenten“ Gesagten zunächst im engeren Umkreis und dann in chorischen Wellen über die ganze Versammlung als Abhilfe entwickelte – hier zitiert Donath wenigstens einige wenige Rufe und Sätze als Beispiel. Doch gerade dazu wäre eine eingehende rhetorische Analyse zu wünschen – und der Gesamtzusammenhang zwischen chorischem Protest und Rhetorik sollte ein zentrales Kapitel bilden – das fehlt.
Donaths fast 60 abschließende Seiten zur „Ästhetik des Widerstands“ liest sich wie ein Beitrag im Doktorandenseminar seines theaterwissenschaftlichen Instituts: Er schließt mit einem „Sowohl – als auch“, sieht den Protestchor als „erfolgversprechende Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen“, der
aber auch das soll: „anders Denkende akzeptieren, in Austausch mit ihnen treten und als Bereicherung für den politischen Meinungsbildungsprozess entdecken“ – muss das nicht jeder Demokrat ohne Protestchor? Besonders hier wünscht sich selbst der Leser mit abgeschlossenem Studium ein Eindampfen des Bandes auf 200 Seiten und eine Schlussaussage, die sowohl der politische Aktivist kommender Proteste wie der engagierte Chorleiter des Theaters zur expressiven Belebung einer Chor-Szene anwenden und somit theatralisch nutzen kann.
Wolf-Dieter Peter |