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Hintergrund
Der „Bernstein-Effekt“
Zum 100. Geburtstag des amerikanischen Komponisten
Es war keine alberne PR-Show, wenn Leonard Bernstein abhob – zu einem seiner Podiumssprünge, um die Orchestermusiker zu einem fulminanten Tutti oder einem lodernden Gipfel anzuspornen. Sie spielten dann auch so. Und Lenny selbst lag das im Blut. Wer wie „Louis“ – Namenswunsch der Großmutter! – nach 1918 als Kind jüdischer Einwanderer aus der Ukraine in einer Kleinstadt wie Lawrence (Massachusetts) aufwuchs, war von Fiddlern, Honkytonks und ihrer aus dem bedrängten Alltag abhebenden Musik umgeben. Zwar war der Vater über das erkennbare musikalische Interesse des – nach Großmutters Tod – seinen Namen offiziell in Leonard ändernden Jugendlichen nicht glücklich, nahm ihn aber dennoch in Konzerte mit. Die Party-Fotos aus Leonards Studentenjahren in Harvard zeigen ihn oft mit Zigarette am Klavier – George Gershwin grüßte; dahinter wurde getanzt… Prompt findet sich in der Reihenfolge nach ersten Klavier-, Kammermusik- und einer Symphonie-Komposition als erstes auf Bühne und Tanz ausgerichtetes Werk das Ballett „Fancy Free“ von 1944 – choreografiert von einem jungen Talent namens Jerome Robbins, der ein enger Freund wurde.
Bernsteins „MASS“ im Musiktheater im Revier (MiR) mit dem gesamten Ensemble des Theaters, hier mit dem Ballett im Revier (s. auch Pressespiegel, S. 25). Foto: Karl Forster
Beide arbeiteten dann am Musical „On The Town“, dessen Tanznummern durch die Verfilmung mit Gene Kelly um die Welt gingen. 1946 folgten „Facsimile“, ein „Choreografischer Essay für Orchester“, und 1953 der Auftrag zum Musical „Wonderful Town“. Bernstein holte die ohnehin vertrauten Freunde Betty Comden und Adolph Green dazu, die Produzenten drängten dann so entschieden, dass sich alle drei in Bernsteins kleines New Yorker Atelier zurückzogen, in messerdickem Zigarettenrauch binnen fünf Wochen Text und Musik lieferten – und Bernstein eben nicht nur gängige Broadway-Melodien herunterschrieb, sondern etwa in der Szene zwischen der hübschen Eileen und irischen Polizisten eine wehmütige, irisch anmutende Volksliedmelodie in einen tänzerisch übermütigen Jig ausbrechen ließ. Gleichzeitig gärten bereits seit 1949 Bernsteins und Robbins‘ Ideen zu einem anspruchsvollen, sogar gesellschaftspolitisch und sozialkritisch eingefärbten Werk, wozu ein entsprechender Textautor nötig war – und der stieß mit dem jungen Stephen Sondheim dazu. Ergebnis: 1957 wurde die Premiere der „West Side Story“ zum Urknall einer seit 60 Jahren andauernden, weltweiten Aufführungsgeschichte: Der tänzerische Elan von Bernsteins Komposition wurde von Robbins Choreografie kongenial aufgegriffen und umgesetzt. Bis heute kann „Get cool“, diese im Beton einer Tiefgarage komprimierte Tanztheaterexplosion, als eine der besten künstlerischen Darstellungen jugendlichen Eingeengt-Fühlens gelten.
Bernsteins pulsierende, zumindest Fußwippen stimulierende Rhythmen ziehen sich durch fast alle seine Kompositionen. Sogar seine alle Religionen umarmende „MASS“ von 1971 hat den Untertitel „Theaterstück für Sänger, Schauspieler und Tänzer“. Bühne und Bewegung waren für ihn zentral; gegen Ende seines Lebens resümierte er, dass er als Mensch wie Komponist immer „kommunizieren“ wollte, dass alle seine Werke, einschließlich der Symphonien und Orchesterwerke „could in some sense be thought of as ‘theatre‘ pieces‘“. Basis dafür war sein von europäischen Elementen unbelastetes, eben „typisch amerikanisches“ Aufnehmen aller künstlerischen Einflüsse, wozu die multidisziplinäre Kunstbetrachtung seines Ästhetikprofessors David Prall in Harvard die Grundlage geliefert hatte. So nutzte Bernstein durchweg eklektizistisch alles, was ihn ansprach und bewegte, um damit musikalisch und musikdramatisch zu kommunizieren: Jazz, Klassik, Blues, Tanzrhythmen, Spätromantik, Bigbandsound, kurze Dissonanz, um dann sofort im Aufführungsmoment eingängige Melodien dagegenzusetzen.
Ohne programmatische oder ideologische Erklärung setzte er die seit der Depression der 1920er- und 1930er-Jahre existierende Haltung vieler Künstler, nicht nur für die Eliten zu schaffen, fort: Als über Radio und Schallplatte hinaus das Medium Fernsehen auch musische Programme senden wollte, setzte zusätzlich Bernsteins pädagogische Begabung schnell neue Maßstäbe – seine ab 1954 beginnenden „Omnibus“-Livesendungen, seine 53 „Young People‘s Concerts“ schrieben Fernsehgeschichte und sind heute noch auf DVD präsent.
Im Jahr 2013 inszenierte Barrie Kosky Bernsteins „West Side Story“ und verabschiedete sich von Jerome Robbins legendärer Choreografie. Choreograf und Co-Regisseur Otto Pichler gelangen neue, zeitgemäße und das Publikum begeisternde Tanzszenen. Foto: Ilo Freese / drama berlin
Schon ab dem 14. November 1943 – mit dem kurzfristigen Einspringen des 25-Jährigen für Bruno Walter beim New York Philharmonic Orchestra und der CBS-Übertragung des erfolgreichen Konzerts – begann, wie die New York Times in ihrer Kritik formulierte „a good American success story“. Es folgte eine gut dokumentierte Weltkarriere mit durchgängigen politischen Statements: Parallel zu seiner Selbstcharakteristik als „politischer Musiker“ entstand eine 666 Seiten starke Akte des FBI über den „linken amerikanischen Nationalisten“. Erinnernswerte Kristallisationspunkte: Bernsteins erstes Deutschland-Konzert im bombenbeschädigten Münchner Prinzregententheater 1946 – wo er sich in der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“ als „Jude vor lauter Nazis“ sah und am nächsten Tag im Lager Landsberg vor KZ-Insassen dirigierte und eine Häftlingsuniform als Erinnerung bekam; 1947 sein erstes Dirigat des späteren Israel Philharmonic Orchestra; zwischen 1960 und 1967 der erste Schallplatten-Zyklus aller Mahler-Symphonien – nicht zuletzt durch die US-weite TV-Übertragung von Mahlers „Auferstehungssymphonie“ am Tag nach der Ermordung John F. Kennedys, was zugleich die Erstsendung einer ganzen Symphonie war; 1968 die Totenmesse für Robert Kennedy mit dem Adagietto aus Mahlers 5. Symphonie; die oft glamourösen, von der Boulevard-Presse weltweit verfolgten Partys des „Bernstein-Clans“ in New York, wozu auch Mitglieder der „Black Panthers“ eingeladen waren und Starjournalist Tom Wolfe eine Debatte über „radical chic“ startete; Bernsteins bleibende, weil CD- und DVD-dokumentierte „Liebesaffären“ mit den Wiener Philharmonikern – von Karajan argwöhnisch verfolgt – und mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks; Bernsteins fürs öffentliche Image in den 1950ern wünschenswerte, von seinem gleichfalls bisexuellen Lehrer Aaron Copland vorgelebte, teils glückliche Ehe – und dauernd wechselnde männliche Partner; seine seit dem 14. Lebensjahr durchgängige Kettenraucherei – nach jedem Konzert stand der jeweilige Freund im Dirigentenzimmer mit einem Glas „on the rocks“ und einer brennenden Zigarette bereit; 1982 eine große Beethoven-TV-Dokumentation mit Bernsteins Einführungen in alle Symphonien und Orchesterwerke mit Maximilian Schells Lesungen aus Beethoven-Briefen; die durch ihn initiierte weltweite Etablierung Gustav Mahlers in den Konzertprogrammen; Bernsteins Gründung von Musikfestivals und seit den 1980er-Jahren seine Teilnahme an ihm gewidmeten Festivals weltweit. Weihnachten 1989: fast wie ein abschließender Gipfel das Konzert mit den Berliner Philharmonikern und Beethovens 9. Symphonie an der gefallenen Berliner Mauer, wozu Bernstein einleitend erklärte, dass alle Beteiligten damit einverstanden seien, statt „Freude“ nun „Freiheit, schöner Götterfunken“ zu singen und er hinzufügte: „Ich bin sicher, Beethoven würde seinen Segen geben“… Neun Monate später verlor Bernstein den Kampf gegen den Lungenkrebs am 14. Oktober 1990.
Während all dieser überbordend gefüllten Jahre begann der tatsächlich weltweit geschätzte, ja geradezu geliebte Star seiner Freude ungebremst Ausdruck zu verleihen und küsste – von Präsidentengattin Jacqueline Kennedy abwärts „alle“, – und in ruhigeren Momenten gestand Bernstein immer wieder sein an Gustav Mahler erinnerndes Leiden, nicht mehr Zeit zum Komponieren zu finden, mit den vorliegenden Werken nichts wirklich Großes geschaffen zu haben und dies und jenes umarbeiten zu müssen, wofür die Fassungen seiner seit 1956 mehrfach überarbeiteten „operetta Candide“ beispielhaft stehen können. Demgegenüber steht der sogenannte, jetzt schon wissenschaftlich untersuchte „Bernstein-Effekt“: seine charis-matisch ausstrahlenden, vielfältigen Wege, junge Menschen für Musik überhaupt und weiterführend für anspruchsvolle Kompositionen zu interessieren, ja sie so sehr zu beeindrucken und zu begeistern, dass sie zu Liebhabern und sogar Ausführenden werden. US-Musikologen wagen sogar das Ranking, dass er mehr Menschen musikalisch erreicht und angesprochen hat als sämtliche zeitgenössischen Komponisten. Diesen neuen Musikfreunden und jedem Musikbegeisterten bleibt ein erfreulicherweise „Regale füllender“ Leonard Bernstein auf CD und insbesondere auf DVD lebendig: emphatisch, ja enthusiastisch und bei Mahler sogar tränenüberströmt und mit gefalteten Händen Musik beschwörend: „Gebt alles, was ihr habt – und dann Crescendo!“ Diese inzwischen klassisch gewordene Anweisung gab der 28-jährige Leonard Bernstein 1946 dem Orchester des Tanglewood-Festivals. Es könnte auch seine Lebensmaxime gewesen sein.
Wolf-Dieter Peter |