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Berichte
Von Angst und Finsternis
„Freischütz“-Aufführungen am Theater Lübeck und an der Deutschen Staatsoper Berlin
Max hängt. Am Leibe umgurtet strampelt er qualvoll irgendwo zwischen Himmel und Hölle, während aus dem Graben die „Freischütz“-Ouvertüre heraufklingt. Den Kopf in den Wolken, die Seele in Abgründen, findet sich der Antiheld am typischen Ort in der allerdeutschesten Nationaloper. Zwischen hochfliegende Gedanken und drückende Realität hat die Geschichte den Platz der Deutschen nicht selten gerückt, ganz sicher aber um 1820 zur Entstehungszeit des „Freischütz“. Die französischen Revolutionsideale waren zur Besatzerideologie verkommen, der nationale Befreiungskampf gegen Napoleon, für den Weber Körners Texte vertonte, hatte nicht zum bürgerlich-liberalen Nationalstaat geführt, sondern zu Dutzenden Territorialfürstentümern mit „Demagogen“-Verfolgungen, Spitzeltum, dem Spitzendeckchenmuff des Biedermeier. Hochgemute Geister suchten die geheimnisvolle Kehrseite des Gewöhnlichen, das Unheimliche, die Romantik.
Max springen die finsteren Mächte buchstäblich ins Gesicht. Kameraterror auf Nahdistanz, wir sind wieder im Zeitalter der Inquisition. „He he he he…“, die gute Gesellschaft im feinen Zwirn reibt ihm die Angst mit Webers zusammengequetschten Dissonanzen unter die Nase. Maxens Angst, Agathes Angst, die Ängste der Gesellschaft hat Jochen Biganzoli zum Thema seiner Lübecker „Freischütz“-Inszenierung gemacht. In roten Glitzerbuchstaben schwebt das Wort „Angst“ vom Bühnenhimmel in einen weißen Kasten hinein. Nichts Düsteres, nichts Trauliches, keine Natur; Bühnenbildner Wolf Gutjahr präsentiert die Figuren pur in hartem Licht. Seine Bühne ist akustisch, ein riesiger Lautsprecher wummert leicht beschleunigte Herztöne in den Saal, Stillstand bei anschleichender Panik.
„Freischütz“ in Lübeck mit María Fernanda Castillo als Agathe, Chor und Extrachor des Theaters Lübeck sowie Mitgliedern der Statisterie. Foto: Paul Leclaire
Katharina Weißenborns Glitzeranzüge und Super-Dirndl, Fräcke und schwarze Kleider verstärken das Befremden. Regisseur Jochen Biganzoli spielt mit diesem Unbehagen. Keine betulichen Dialoge zwischen den Musiknummern, dafür kurze Texte aus dem „Gespensterbuch“, der Quelle des „Freischütz“, oder eine Anleitung zum waidgerechten Aufbrechen eines Rehs. Der Wald im Video derart, dass er trotz „Bambi“, Waldkindergarten und ordentlicher Holzindustrie noch immer der alte Angst-Ort ist: „Nein, länger trag‘ ich nicht die Qualen.“ Max kann nicht schießen, kann keine Liegestütze und Agathe will auch nicht sein trautes Frauchen sein. Caspar, mit seiner Todesangst vor Samiel im Nacken, pfeift im dunklen Wald, will sagen, er verteilt leutselig „Jägermeister“-Fläschchen im Publikum. Ännchen, auch ein Teufelsbraten, schnappt sich gleich drei schlanke Burschen, später die große Pulle mit dem Kräutertrank. Agathe plagen die normalen Ängste: Wo bleibt er, was ist mit ihm? In jeder Musiknummer ist es anders. Biganzoli zeigt die Angst mal nackt, mal getarnt hinter Glitzer, Grinsen und Gehampel. Wenn es ganz lustig wird, ist ihm am wenigsten zu trauen. Die Wolfsschlucht: zuerst zum Mitspielen, zum Schluss ein Gemetzel. Mit jeder neuen Variation in seiner Angst-Revue weist der Regisseur jedoch auf den Komponisten. Weber hat die Angst mit aller künstlerischen Hingabe komponiert. „Ich habe lange und viel gesonnen und gedacht, welcher der rechte Hauptklang für dies Unheimliche sein möge“, äußerte er in einem Gespräch.
Im dritten Akt kommt der deutsche Wald als Wirtshausbank und Biertisch vor; Angela Merkel, der Papst und Mesut Özil grüßen, Luther, Mercedes und der Grüne Hügel sind auch auszumachen. Ein populistischer Politiker stammelt von Volkskunst, der Jägerchor geht in den Karneval über und niedliche Beamtinnen winden erfolgreich Eingebürgerten den Jungfernkranz. Agathe ist Miss Germany. Die Gemeinschaftsangst vor der globalisierten Unheimlichkeit von heute hat der Regisseur im deutschen Idyll verquirlt.
Aber hat Biganzoli die Deutungshoheit über das ganze deutsche Hörnerbrausen und den Oboentrost, über das teuflische Bratschensolo und den Violinjubel, über den komponierten Duft der Bäume und den Sang des Volkes, über strahlende Tenortöne, lyrische Sopranlieblichkeit und den schwarzen Geisterchor, über den großen Widerstreit des Bösen und des Guten komplett an dieses spießige Pandämonium abgegeben? Nein, nicht ganz. Der Eremit, die höchste Instanz bei Carl Maria von Weber und Friedrich Kind, ist es auch bei Jochen Biganzoli. Standesgemäß schwebt er von oben ein, sieht aus wie der amtierende Bundespräsident und hält das Grundgesetz in der Hand. „Lasst uns die Blicke erheben“, singt der Chor. Die Zuschauer dürfen es ironisch nehmen. Sie müssen es nicht. „Mir war es ganz wichtig, dass wir nicht parodistisch werden“, sagt Biganzoli.
Andreas Wolf am Pult des Lübecker Philharmonischen Orchesters lässt Webers Musiknummern ohne den grauen Puder der Dialoge ganz ungewöhnlich glänzen. Das Zusammenspiel von Bühne und Orchester ist perfekt, obwohl Biganzoli den gesamten Zuschauerraum bespielt. Der Chor ist heftig in Bewegung, beeindruckt durch szenisch gedachte Klanggestaltung und physische Ausdruckskraft.
Stimmlich ist Max, Tobias Hächler, weit vom Angsthasen entfernt. Er hat einen kernig kräftigen Tenor, im piano besonders wohllautend, den er ohne Zagen einsetzt. Agathe, María Fernanda Castillo, singt lyrisch und samtig, kann aber auch ins Dramatische ausgreifen. Taras Konoshchenko und Andrea Stadel als Caspar und Ännchen dienen dem Teufel mit gesanglichem Biss und schrill galgenhumorigem Spiel.
Dieser „Freischütz“ hat Musiker, Sänger, Regieteam und die Zuschauer an Grenzen geführt. Denk- und Diskussionsstoff vom deutschen Gründungsmythos Teutoburger Wald bis zu Müllkontinenten in steigenden Ozeanen.
„Freischütz“ in Berlin mit Anna Prohaska als Ännchen, Dorothea Röschmann als Agathe (Premierenbesetzung).
Foto: Katrin Ribbe
Michael Thalheimer kriecht mit seinem „Freischütz“ an der Berliner Lindenoper, Wiederaufnahme zur Saisoneröffnung, ins Herz der Finsternis. Max‘ Alpträume spielen genau da, wo sie entstehen: Olaf Altmann baute das Innere eines Gewehrlaufs auf die Bühne. Der Schuss zielt in die Tiefe des Raums. Die explosive Kraft entsteht an der Rampe, gleich dort, wo die Staatskapelle musiziert. Ist es in Lübeck nüchtern hell auf der Bühne, herrscht in Berlin klaustrophobe Dunkelheit. Auch Thalheimer hat fast alle Dialoge gestrichen, die Menschen treten, kriechen, stolpern ausschließlich singend auf die Bühne. Nicht-Mensch Samiel röchelt und kreischt, beschnüffelt seine Opfer, befiehlt, treibt den Pöbel an. Manchmal aber nimmt der kräftige Peter Moltzen seine Hörnermütze ab und tröstet die tödlich Verzweifelten. Die Schusswaffen sind in der Welt, die Lande sind verheert, die Wunden der Überlebenden reichen tief. Thalheimer lässt seine Figuren von Katrin Lea Tag in eine kaum vergangene Gegenwart hineinkostümieren, wo man noch stolzgeschwellt auf Scheiben und Wildschweine zielt, wo heilige Einsiedler Moral verkörpern und Brautjungfern nicht ausgelacht werden. Wo Obrigkeit dreifaltig herrscht, Erbförster, Fürst, Gott.
Den Chor verdammte das enge Bühnenbild zur Statik, mit jeweils wenigen einzelnen Personen konnte Thalheimer indes hinreichend spannungsvoll umgehen. Der Dirigent und die Besetzung für Max und Agathe wechseln in Berlin; unersetzlich ist Anna Prohaska als Ännchen. Wie sie herbeistelzt, ruckt und humpelt, teufelsbesessene Einflüsterin mit Engelsstimme, ist grandios. Ebenso einzigartig die Berliner Staatskapelle. Wer wenn nicht dieses Orchester mit seiner mitteldeutschen Tradition der substanzreichen Mittellage und des runden Mischklangs ist bei Weber am richtigen Platz. In Lübeck ist das Orchester perfekter Erfüllungsgehilfe der Inszenierung, in Berlin manchmal ein tröstender Lichtstrahl.
Irene Constantin
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