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Wie ein deutscher Familienfilm

Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ am Oldenburgischen Staatstheater · Von Irene Constantin

Die Figuren aus Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ nach Fjodor Dostojewski kommen einem auf der Oldenburger Theaterbühne merkwürdig bekannt vor. Gawrila, genannt Ganja, ist einer von der Sorte junger Männer, die für Geld jede Gemeinheit und jede Erniedrigung auf sich nehmen. Rogoschin ist der Typ missratener Sohn; als illegitimer Fürstenspross erbt er dennoch Millionen. Die Frau, die er liebt, Nastassja, ist schön und großmütig, aber unberechenbar, bindungsunfähig, durch frühen sexuellen Missbrauch traumatisiert. Ihr Gegenbild ist Aglaja, ein lichter Engel aus bestem Hause.

Zurab Zurabishvili als Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin und Paul Brady als Lebedjew. Foto: Karen Stuke

Zurab Zurabishvili als Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin und Paul Brady als Lebedjew. Foto: Karen Stuke

Sie ist jedoch anspruchsvoll, zum Spott neigend und damit ein Problem für ihre spießige Offiziersfamilie. Schließlich gibt es den „Idioten“, so genannt, weil es ihm völlig an Egoismus, Vorurteil und Vorteilsnahme gebricht. Dieser Fürst Myschkin ist Epileptiker und vom Helfersyndrom befallen, man könnte ihn hämisch einen Gutmenschen nennen. Hätte nicht Dostojewski diese illustre Gesellschaft erfunden, sie könnte ähnlich von Balzac stammen oder das Personal eines deutschen Familienfilms sein. Andrea Schwalbach, Regisseurin der Oldenburger Produktion, spürte das überdauernd Allgemeine in der Petersburger Adelsgesellschaft der 1860er-Jahre auf und versetzte sie in eine etwas angestaubte Gegenwart.

Weinberg beschränkt sich auf die Hauptfiguren des Romans und schichtet die in kurzen Szenen erzählte Handlung geschickt über- und nebeneinander. Schwalbach verschränkt diese Parallel-Episoden derart fließend, dass es immer wieder scheint, als betrachteten die Figuren sich selbst – bei ihrem Scheitern.

Rogoschin ist Nastassja in selbstzerstörerischer Leidenschaft verfallen, Myschkin liebt sie aus reinem Mitleid. Mehrfach flieht sie vor seinen Seelenrettungs-Versuchen; Fluchtpunkt ist immer wieder Rogoschin. Der tötet sie schließlich. Die schöne Aglaja schaut auf eine wie Nastassja nur herab, muss aber erleben, dass Myschkin sich dennoch für Nastassja entscheidet. Ganja zieht die allgemeine Verachtung auf sich.

Mieczysław Weinberg, 1919 in Warschau geboren, 1996 in Moskau – man muss es hervorheben – eines natürlichen Todes gestorben, floh vor den Nazis von Warschau nach Moskau. In den frühen 50er-Jahren wurde er unter einer haarsträubenden Anklage inhaftiert, wogegen sein Mentor Dmitri Schostakowitsch wagemutig protestierte. Stalins Tod 1953 bewirkte schließlich die Befreiung. Weinbergs Musik ist eine vielgestaltige Synthese wichtiger Strömungen des 20. Jahrhunderts. Er steht in der klassizistischen Tradition Schostakowitschs, aber die westliche Moderne um Hindemith ist ebenso zu ahnen wie Prokofjews weltläufige Leichtigkeit. Der 1985 komponierte „Idiot“ ist ein persönliches, durchaus tonales Werk. Trotz markanter Paukenschläge und schicksalsmächtiger Blechbläserakkorde dominiert ein introvertierter Grundklang. Kantilenenhaft erscheinen Anlehnungen und Scheinzitate, die immer wieder an Weinbergs polnisch-jüdische Wurzeln erinnern.

Zurab Zurabishvili legte den Fürsten Myschkin eher kindlich naiv als philosophisch weltfremd an, tenoraler Held im Strickpullover. Daniel Moon als Rogoschin schuf mit seinem dunkel melancholisch eingefärbten Bariton einen deutlichen Figurenkontrast. Ebenso klar die Polarisierung der Frauenfiguren. Eindringlich mit innig dunkler Stimme die Nastassja Irina Okninas, dagegen der licht-kühle Sopran Yulia Sokoliks als Aglaja. Vito Cristófaro hatte am Pult des Oldenburgischen Staatsorchesters eine Großtat an musikalischer Organisation zu vollbringen. Das textreiche Parlando-Stück erfordert durchgängig höchste Aufmerksamkeit.

Ein Meisterstück in einem spätentdeckten Werk, das nach der szenischen Uraufführung 2013 in Mannheim und nach der Oldenburger Produktion keinesfalls wieder in Vergessenheit geraten sollte.

Irene Constantin

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