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Sprungkraft und neue Männlichkeit

Über Männer in Ballettensembles · Von Gisela Sonnenburg

Der Münchner Ballettdirektor Ivan Liska hatte Glück mit der Berufswahl. Er lebte in der damaligen Tschechoslowakei – und musste nicht befürchten, geächtet zu werden, weil er als Junge zum Ballett wollte. Liska: „In Prag war Ballett sehr akzeptiert.“ In Westdeutschland war und ist eine solche Entscheidung oft nicht so einfach. Viele Jungen haben Angst, als echte oder vermeintliche Schwule gehänselt zu werden, wenn sie sich zum Ballett bekennen. Dabei ist ein strikt klassisches Ballerinenballett ohne männlichen Partner gar nicht denkbar. Im 19. Jahrhundert, das den Bühnentanz bis heute prägt, war der Mann dennoch oft nur eine Art lebender Kran mit akrobatischer Zulage: um Tänzerinnen zu präsentieren, zu stützen, emporzuheben, zu bewerben. Die brillanten, sprungstarken Soli der Herren entstanden zunächst nur als Alibi, als Pausenfüller sozusagen: um der Primaballerina genügend Zeit zum Atemholen zu geben. Das galt in gewisser Weise sogar für frühe Highlights des 20. Jahrhunderts, wie „Le Spectre de la Rose“ der Ballets Russes, in dem ein Mann als Rosengeist brilliert.

„Scènes de ballet“ im Bayerischen Staatsballett (Foto: Wil-

„Scènes de ballet“ im Bayerischen Staatsballett (Foto: Wil fried Hösl).

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand ein Umdenken statt. Kevin Haigen, Erster Ballettmeister von John Neumeier beim Hamburg Ballett und vorher ein bedeutender Primoballerino, weiß: „Es sind unter anderem zwei Choreografen, die die Position des Mannes im Ballett neu definierten: Maurice Béjart und John Neumeier.“ Aus „Ballerinenhaltern“ wurden somit Darsteller. Gruppenszenen, aber auch Soli und Pas de deux ohne Frauen gewinnen seither an Bedeutung. Einen ers-ten Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 1976: In John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ gibt es als Finale ein mittlerweile weltberühmtes Stück rein männlicher Tanzkunst. Der verrückt gewordene Ludwig II. tanzt sich da in den erlösenden Liebestod mit seinem „Mann im Schatten“.

Männer-Freundschaften

Béjart hingegen schuf schon seit 1955 Stücke wie „Symphonie pour un homme seul“, die das Menschsein an sich als männlich definierten. Das war nicht nur verherrlichend, sondern auch kritisch befragend gemeint. Darum verehrte John Neumeier dem älteren Maurice Béjart zu dessen 70. Geburtstag einen ungewöhnlichen Pas de deux von Mann zu Mann: „Opus 100 – for Maurice“, vom lichtblonden, schlanken Ivan Liska und dem brünetten, zierlichen Kevin Haigen 1996 uraufgeführt, ist ein anspielungsreicher Paartanz über diverse Ballette von Béjart und Neumeier. Und es geht darin um kompliziert-verwegene, tiefgründig-sehnsuchtsvolle, ambivalent-beglückende Freundschaften unter alternden Jungen. Das ist wirklich kein Thema eines konventionellen Themenkanons, eher Performance pur.

„Opus 100 – for Maurice“ mit Ivan Liska und Kevin Haigen

„Opus 100 – for Maurice“ mit Ivan Liska und Kevin Haigen

„Der Tanz, das ist der Mann“, hat Maurice Béjart einmal gesagt. Er parierte damit ein Statement des russischstämmigen Amerikaners George Balanchine: „Das Ballett ist die Frau.“ In Béjarts Stücken sieht Ballett allerdings so aus: Der nackte männliche Oberkörper dominiert die Szene. Die Muskeln, auch die erotische Wirkung der Haut, sollen zur Geltung kommen; geschmeidige Sprünge und kantige Posen im Wechsel erbringen eine moderne Anmutung von Männlichkeit. Obwohl ab und an Damen auftreten: Dem Eindruck nach regieren bei Béjart jungmännliche Heerscharen mit intensiver Sinnlichkeit.

Eine fast aggressive Form männlicher Schönheit gab es seit 1967 auch in Moskau, wo Yuri Grigorovich „Spartacus“ als sowjetische Selbstfindung à la Robin Hood choreografier-te. Kraftvolle Männer statt blasser Buben als Sinnbilder vom neuen Menschen: stampfende, vor Energie nur so strotzende Dreher und Springer berücken mit Virtuosität. Zuschauer mit Grenzgängerbonus sahen dann 1975 in Hamburg die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier – das erste wichtige abendfüllende abstrakte Ballett überhaupt – als eine Béjart zitierende softe Antwort des Westens auf den brachialen „Spartacus“ am Bolschoi.

Spezielles Training

In Ost wie West waren Männer im Tanzvordergrund meist eine Sensation. Heute ist es selbstverständlich, Tänzer auch jenseits der Ballerinenhoheit als Blickfang zu würdigen. So gibt es in einigen Compagnien sogar spezielles Exercice fürs starke Geschlecht. Tomas Karlborg, gebürtiger Schwede und seit 1983 in Berlin wirkend – zunächst als Tänzer, dann als Ballettmeister – leitet mit großem Erfolg beim Staatsballett Berlin das „Herrentraining“, das bei Bedarf statt einer normalen „Class“ am Vormittag stattfindet.

Männliche Sprungkraft: Tigran Mikayelyan in „Scènes de ballet“ am Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Männliche Sprungkraft: Tigran Mikayelyan in „Scènes de ballet“ am Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Karlborg beginnt das Training mit weichen, langsamen Tempi und steigert es konsequent zu größtmöglicher Rasanz und kraftvoller Schnelligkeit. Nach einer Viertelstunde sind die Tänzer bereits schweißnass, nach vierzig Minuten durchschneiden ihre Körper im Flug der Pirouetten und Sprünge die Luft, als seien sie Raketen. Ihre Drehungen sind stets mehrfache: sechsfach oder noch öfter rotieren die Tänzer auf der Stelle. Die Stimme des Ballettmeisters peitscht durch den Saal: „Ha! Ho!“ Das motiviert die Gruppe, sich anzustrengen. Allerdings ist das kein Drill, sondern ein Angebot. Wer einen schlechten Tag hat oder sich für eine Probe schont, wird nicht gefeuert. Die meisten Tänzer nutzen aber die Gelegenheit zu Gunsten ihrer Muskeln. Akkuratesse und Kraft, Technik und Schnelligkeit: Karlborgs Herrentraining hat die Anmutung einer modernen Aufführung mit klassischen Mitteln. In Berlin proben die Tänzer ein Ballett von Maurice Béjart, das der Männlichkeit ebenfalls heftigen künstlerischen Auftrieb verleiht: Der „Ring um den Ring“ wurde 1990 uraufgeführt. Tomas Karlborg tanzte damals den jungen Wotan und den Brünnhilde-Gatten Gunther, Kevin Haigen tanzte den bösen Gnom Alberich, der bei Béjart mit der hehren Kriemhild den verräterischen Helden Hagen zeugt. Eben dieser Hagen wurde von Lode Devos, heute Ballettdirektor in Chemnitz, verkörpert.

In Chemnitz pflegt man eine Béjart-nahe Körpersprache. Zurzeit arbeitet man an einer „Tanzhommage an Queen“, die Ben Van Cauwenbergh schuf. Der Belgier, Ballettdirektor in Essen, huldigt dem metrosexuellen Stil von Männlichkeit, in dem sich Androgynität und spielerisches Machotum vermischen. Damit liegt er voll im Trend. Für Lode Devos steht derweil fest, dass die vorurteilsbehaftete Diskriminierung männlicher Tänzer „vor allem an einfachen Dingen“ liege. Etwa an der Strumpfhose, die nicht nur die Beine, sondern auch den Hintern deutlicher zeigt als normale Sportkleidung. Das Suspensorium, als gepolsterter Tanga, der Stöße abfedert, betont zudem das beste Stück vom Mann. In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte das kein Problem sein. Aber anscheinend herrscht hier ein Tabu.

Dabei kann Ivan Liska eine interessante Entdeckung vermelden: „Männer legen die Scheu ab, Männer zu beobachten.“ Dem Chef vom Bayerischen Staatsballett, der jüngst den honorigen „Maximiliansorden“ erhielt, ist es wichtig, dass die neue männliche Schönheit auch gesamtgesellschaftlich (an-)erkannt wird. Das altklassische Ideal vom hohen Sprung ist ihm allerdings zu wenig. „Mittlerweile gibt es viele Choreografen, die andere Welten eröffnen und neue Männlichkeitsbilder im Tanz kreieren“, sagt Liska: „Das liegt an der heutigen Befindlichkeit, sich auszudrücken.“
Mit Russell Maliphant und Terence Kohler hat Liska junge choreografische Kräfte an Bord, die gern auch die sanfte Emotionalität von Männern auf die Bühne bringen. So dürfen die Jungs in Maliphants „Broken Fall“ in einer getanzten Ménage à trois barfuß über den Boden purzeln. Die kommende Uraufführung von Kohler setzt sich mit einem echten Männerthema auseinander – es heißt „Helden“. Diese werden, das sei versprochen, mehr als nur tapfer sein.

Gisela Sonnenburg

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