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Ein Mann des Theaters
Zum 200. Geburtstag Giuseppe Verdis · Von Wolf-Dieter Peter
„Wir Menschen sind die geborenen Narren“ war eben verklungen und der fulminant losprustende Orchesterkommentar im explodierenden Gelächter sowohl der Bühnenfiguren als auch eines Gutteils der Zuschauer untergegangen. Es muss eine bewegende Szene gewesen sein im April 1893, am Ende einer „Falstaff“-Aufführung im römischen Teatro Costanzi, der Giuseppe Verdi auf Einladung des Königs Vittorio Emanuele in der Königsloge beiwohnte. Anschließend wurde der knapp 8o Jahre alte weißhaarige Herr als der größte lebende Komponist bejubelt. Doch nach dem Toast winkte der solchermaßen Gefeierte, der in 26 mehrfach überarbeiteten Opern alle Leiden, allen Jammer und alle Qual dieser Erde komponiert und damit ein musikalisches Werk sondersgleichen vorgelegt hatte, ab: „No, no, lasci andare il gran musicista – io son‘ un uomo di teatro! – Nein, nein, lassen Sie den großen Komponisten beiseite – Ich bin ein Mann des Theaters!“ Das war kein Schnörkel eitler Bescheidenheit, sondern eine Richtigstellung: Es ist die zentrale Äußerung Verdis zu der ewigen Frage: „Prima la musica, dopo le parole – oder umgekehrt...?“ Ist zuerst die Musik da oder der theatralische Stoff? Verdi, dessen Melodien doch sogar in Form von Gassenhauern unsterblich geworden sind, hat sich eindeutig entschieden: für das Theater, in dem der Text dann kompositorisch durch Emotionen aufgeladen auf der Bühne durch Gesang und Darstellung zu dramatischem Leben erweckt wird.
Der schönste Chor überhaupt
Giuseppe Verdi gilt auch als einer der bedeutendsten Choropernkomponisten. Einige Häuser haben das Verdi-Jahr bereits eingeläutet, unsere Fotos zeigen, dass die Chöre hier eine zentrale Rolle spielen. Oben: „Falstaff“ am Deutschen Nationaltheater Weimar mit Alik Abdukayumov als Ford, Daniel Henriks als Falstaff und Mitgliedern des Opernchors (Foto: Erhard Driesel).
Dieses Musiktheater lebt prompt bis heute durch ihn und von ihm: Was wären die Spielpläne opernweltweit ohne die Werke Giuseppe Verdis? Was wären wir ohne die Frische, den Zauber und die scheinbar ewige Jugend seiner Musik? In einer Zeit der schnellen Trends und schnell verbrauchten Moden: Wirkt sie nicht zeitlos, lebendig, unverbraucht, immun gegen das aushöhlende Prinzip stetiger Wiederholung? Bleibt nicht Verdis „Va, pensiero… – Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“ der schönste Chor, der je erdacht wurde – einer, der im irdischen Jammertal immer wieder Hoffnung spendet, sei sie auch utopisch? Was wären wir ohne Gildas Liebesglück, das sich in „Caro nome“-Koloraturpirouetten austaumelt, was ohne Rigolettos „Cortiggiani“-Abrechnung? Wären wir nicht ärmer ohne Violettas „Amami“-Vulkanausbruch? Wirken heutige Schurken nicht armselig gegen die betörend dunkelsamtige Eleganz eines Grafen Luna und „Ihres Augen himmlisch Strahlen“, ja selbst gegen Macbeths „Perfidi“? Schwebt Simon Boccanegras großer Appell „E vo gridando: pace! E vo gridando: amor!“ nicht als das schöne Friedensideal bis heute über aller Politik? Haben wir in den scheinbar aberwitzigen Wechselfällen der „Macht des Schicksals“ nicht ein bestürzendes Abbild der wirren Mobilität unserer heutigen Welt? Durchwärmt das „Libertà!“ des Freundschaftsduetts zwischen Don Carlos und Marquis Posa nicht bis heute unsere politikmüden Sinne? Findet sich nicht jeder einmal in der Liebe Gescheiterte in Philipps „Sie hat mich nie geliebt“ wieder? Sind uns Aidas Nil-Einsamkeit, Amonasros väterliche Versöhnung, das alles Irdische verlassende Liebesduett am Ende nicht menschlich nahe? Und nach all diesem Leiden, all diesem Sterben und Morden und Scheitern, nach dem Durchschreiten aller Qual und aller oft vergeblichen Hoffnung – nach dem Entschluss, nach „Aida“ nicht mehr für die Bühne zu schreiben, nach fünfzehn Jahren Schweigen schenkt uns dieser Dreiundsiebzigjährige noch einmal alles kurze Glück und heftige Elend Otellos, gesteigert zum „Blutrausch“ im Schwurduett mit Jago... Verdi als der überragende Opern-Tragöde auf Shakespeare-Höhen! Doch nicht genug! Die Extreme liegen eben nahe beieinander, sodass die Krönung einer singulären Lebensleistung folgt: Shakespeares Falstaff und die Frauen – nun als Verdis pfiffige Abrechnung mit Ehrpusseligkeit und Eifersucht, mit männlichem Imponiergehabe und menschlicher Schwäche schlechthin: Alles wird mit entlarvendem Gelächter teils überschüttet, teils bloßgestellt. Als der Lebensweisheit letzten Schluss werfen uns die Bühnenfiguren „Wir Menschen sind die geborenen Narren“ an den Kopf, lachend, erschreckend, losprustend – und dies alles in der strengsten musikalischen Form, der Fuge – was für ein letzter genialer Kunstgriff! Genug für die Unsterblichkeit!
Die Biografie
In Gelsenkirchen (Musiktheater im Revier) hatte „Don Carlo“ Premiere, hier der Groß-
inquisitor als Jesusfigur mit Mitgliedern des Chors (Foto: Pedro Malinowski).
Doch dann gibt es noch „Viva V.E.R.D.I.!“ – und diese Biografie: Was hatte der 1813 geborene Sohn eines Kleinkrämers und Schankwirts in einem Bauernkaff für Aussichten? Sicher nicht, dass 1901 Abertausende seinen Sarg begleiten und dann „Va, pensiero...“ singen, während die ganze Musikwelt trauert. Dazwischen dieser anfangs bescheidene Weg zum Kirchenorganisten, zum noch unsicheren Komponisten, der prompt vom Mailänder Konservatorium abgelehnt wird. Dann die kleinen Erfolge – zermalmt vom Tod der zwei Kinder und der ersten Frau... Dann aber tauchen das „Nabucco“-Textbuch und eben jene „Va, pensiero“-Zeilen auf, und „Nabucco“ wird zur heimlichen Nationaloper und -hymne. Es folgt mit der gehetzten Opernkomposition der „Galeerenjahre“ das kompositorische Ausschreiten vielfarbiger Stoffe, dramatischer Konfliktsituationen und musikalischer Formen. Nach dem kühnen „Macbeth“ und der Forderung „hässlich zu singen“, kommt mit der Trias „Rigoletto-Troubadour-Traviata“ der europäische Durchbruch – und dann folgt ein Gipfelwerk nach dem anderen. 1849 festigt „La Battaglia di Legnano“ Verdis Ruf als Komponist des italienischen „Risorgimento“ mit der theatralischen Aufforderung zu vaterländischer Einigung: „Viva V.E.R.D.I“ steht als Wandschmiererei und heimlicher Politgruß für „Viva Vittorio Emanuele Re D’Italia!“. Verdi wird eine nationale Figur – bekannt wie Cavour, Mazzini und Garibaldi. Doch der Privatmann zeigt ganz andere Züge: Verdi bleibt oft misstrauisch und deshalb schweigsam; er reagiert herrisch und hart; hinter seinem Komponieren muss alles andere zurückstehen; trotz einer umfangreichen Korrespondenz hat er nach dem Tod der geliebten Giuseppina alle privaten Briefe vernichtet; zur grundsätzlichen persönlichen Bescheidenheit passt die Flucht in die ländliche Abgeschiedenheit von Sant’Agata; dessen Gutshaus lässt Verdi aber auch allmählich zur herrschaftlichen Villa ausbauen, umgeben von einem großen Garten und einem neuen, beeindruckend emporwachsenden Baumbestand. Er bleibt – sich selbst stilisierend – „der Bauer von Le Roncole“ und kümmert sich speziell nach „Aida“ und „Otello“ energisch um seine Landwirtschaft. Zwar geht er 1859 als Deputierter nach Turin, legt aber das Amt nach einem Jahr nieder. 1874 muss er zur Annahme des Senatorentitels im neuen Königreich lange überredet werden. Zwar unterrichtet er vereinzelt, doch er bleibt ohne Schule: Er selbst war nie auf einen Stil festgelegt. Alles wird 1899 nochmals überstrahlt von seinem „schönsten Opus“: der „Casa di Riposo“, dem Heim für alte, bedürftige Sänger, das bis heute von Verdischen Tantiemen erhalten wird. Dort ruht er im Oratorio zusammen mit Giuseppina... Was für ein Künstlerleben – eines, das nie den höchsten menschlichen Wert verloren hat: Humanität!
Wolf-Dieter Peter |