Neue Perspektiven in Stuttgart
Edison Denissows „L‘Écume des jours“ · Von Marco Frei
Nun ist es also komplett, das Leitungsteam von Jossi Wieler an der Staatsoper Stuttgart. Sylvain Cambreling ist der neue Generalmusikdirektor am Haus, er folgt Manfred Honeck nach. Für den Chor und das Orchester der Oper eröffnet diese Wahl eine ungeheure Chance, weiter am Klang zu feilen – ihn zu öffnen und zu flexibilisieren. Das verdeutlichte die Premiere „Schaum der Tage“ (L’Écume des jours) von Edison Denissow, mit der Cambreling seinen Einstand als neuer GMD im Opernfach gab. Es waren vor allem der Chor und das Orchester, die unter ihm bleibende Hörerlebnisse schenkten.
Arnaud Richard (Nicolas), Pumeza Matshikiza (Isis), Ed Lyon
(Colin), Daniel Kluge (Chick), Sophie Marilley (Alise) und Rebecca von
Lipinski (Chloé). Fotos: A.T. Schaefer
Dabei hatte Sylvain Cambreling ursprünglich seinen Opern-Einstand als neuer Generalmusikdirektor mit einer Uraufführung bestreiten wollen. Ganz oben auf der Wunschliste rangierte ein neues Musiktheater von Mark Andre. Das Werk wurde nicht rechtzeitig fertig, nun ist die Uraufführung von Andre in der Spielzeit 2013/14 geplant. Dafür aber wurde mit Denissows „Schaum der Tage“ ein Dreiakter wiederbelebt, der nach der Uraufführung in Paris 1986 etwas in Vergessenheit geraten war. Die gelungene Stuttgarter Produktion verriet, dass der damalige Misserfolg nicht unbedingt dem Werk geschuldet war – auch wenn es durchaus Tücken zu meistern gibt.
Das fängt schon mit dem Libretto an, das der von Dmitri Schostakowitsch geförderte und 1996 verstorbene russische Komponist selber aus dem gleichnamigen existenzialistisch-surrealen, absurden Roman von Boris Vian zusammengestellt hat. Im Zentrum des „lyrischen Dramas“ stehen die Paare Colin (Ed Lyon) und Chloé (Rebecca von Lipinski) – sie ist der Jazz-Melodie „Chloé“ von Duke Ellington entsprungen – sowie Chick (Daniel Kluge) und Alise (Sophie Marilley). Während sich die Wohnräume immer mehr verengen, das Licht sich eintrübt und die Sprache hektischer und grotesker wird, wächst krebsartig aus der Lunge Chloés eine Seerose.
Marcel Beekman, Mitglieder des Staatsopernchors sowie Rebecca von Lipinski. Fotos: A.T. Schaefer
Obwohl Colin kein Mittel und Geld scheut, um seine Geliebte zu retten, stirbt Chloé – woran Colin zerbricht. Deswegen verfremdet Denissow das Sehnsuchtsmotiv aus Wagners „Tristan und Isolde“, und das parallele Paar ist nicht besser dran. Statt die Hochzeit mit Alise zu finanzieren, erwirbt Chick zahllose Bücher des berühmten „Jean-Sol Partre“ – eine Anspielung auf Sartre. Von Polizisten und Steuereintreibern, die sich aus Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ verirrt haben, wird Chick misshandelt und niedergemetzelt. Alise wiederum kommt um, als sie aus Wut über Chick Bibliotheken in Brand setzt.
Die Musik von Denissow, der mit Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke seit den 1960er-Jahren zu einer zentralen Stimme der sowjetischen Avantgarde avancierte, changiert zwischen freiem Serialismus und Jazz, Sinfonik und Kammermusik, orthodoxem Kirchengesang und Schlager, Oper und Musical. Hinzu kommen Allusionen und Zitate, die mikrotonal und clus-terähnlich verschleiert werden. Auch die Schlittschuhläufer sind übrigens nicht voraussetzungslos: Sie verweisen auf Meyerbeers „Propheten“ oder Honeggers choreo-grafische Sinfonie „Skating Rink“. Zudem erweitern umfangreiches Schlagwerk, Klavier, Cembalo, E-Gitarre und Saxophone die Orchesterbesetzung.
Und es ist nicht leicht, aus der bisweilen abstrakten, skurrilen Handlung eine Inszenierung zu zaubern – zumal Denissow vor allem die lyrischen und musikalischen Potenziale der Vorlage befragt. Weil aber Opernintendant Jossi Wieler und Sergio Morabito für ihre Regie konkrete Szenerien entwarfen und die Symbolsprache in Wort und Musik visualisierten (Bühne: Jens Kilian, Video: Chris Kondek), führten sie sinnstiftend durch das Werk. Insgesamt konnten die Solisten darstellerisch und gesanglich überzeugen, teilweise mit Bravour. Und dennoch: Die Sieger des Abends waren der Chor und das Orches-ter, die von Cambrelings empathisch-feinsinniger Leitung profitierten.
Dem Ex-Leiter des Sinfonieorchesters Freiburg und Baden-Baden, dem nun das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, gelang es, eine unerhört farbliche Sinnlichkeit, luzide Transparenz und atmosphärische Verdichtung leben zu lassen. Weil Cambreling auch klangliche Hintergründe suchte und ausgestaltete, thronte nirgends ein vordergründiges Zuviel – was angesichts der stilistischen Kontraste und Brüche in der Partitur schnell drohen könnte. Zwar schärfte Cambreling durchaus zupackend die Effekte, überzeichnete sie aber nicht. Das Ergebnis dieser klanglichen Differenzierung waren einnehmend warme Farben in Chor und Orchester.
Marco Frei
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