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Portrait

Umstritten und verehrt

Zum 20. Todestag von Rudolf Nurejew · Von Birgit A. Rother

Er war der Prinz, der in den Bann zog, doch nichts an ihm war edle Blässe und Blaublütigkeit. Er war schön, aber kein klassischer Danseur noble wie die großen europäischen Tänzer seiner Zeit. Er war brutal und körperbetont, doch ebenso zart und spirituell. Ein herausragender Tänzer, der männliche Tanzstar schlechthin, einer der meistfotografierten Menschen des 20. Jahrhunderts, doch stand er auch stets heftig in der Kritik: Rudolf Nurejew. Einer, der aus der Reihe fiel. Unbequem und unangepasst. Kritisiert und gehasst. Viel mehr aber noch: gefeiert, verehrt und geliebt. Am 6. Januar jährte sich sein Tod zum 20. Mal. Nicht nur um dieses Datum herum gruppieren sich Fernsehübertragungen und Aufführungen seiner Choreografien aus den Opernhäusern von Paris, London und Wien über Moskau bis hin nach San Francisco. Rudolf Nurejew (1938-1993) ist legendär, unvergessen und bis heute faszinierend.

Rudolf Nurejew im Jahr 1965 in Roland Petits Choreographie „Le Jeune Homme et La Mort“, 1966 verfilmt für das französische Fernsehen. Foto: Jürgen Vollmer/Rudolf Nureyev Foundation

Rudolf Nurejew im Jahr 1965 in Roland Petits Choreographie „Le Jeune Homme et La Mort“, 1966 verfilmt für das französische Fernsehen. Foto: Jürgen Vollmer/Rudolf Nureyev Foundation

Bereits die wichtigsten Ereignisse in Nurejews Biographie sind außergewöhnlich: Sohn tatarischer Eltern, geboren kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in der Transsibirischen Eisenbahn, Kindheit in großer Armut in der Provinz, späte Ballettausbildung und trotzdem in kürzester Zeit steile Karriere im Leningrader Kirow-Ballett, 1961 Flucht als erster Tänzer aus der Sowjetunion in den Westen, unter Beobachtung des KGB spektakuläre Weltkarriere gleich einem Popstar mit exzessivem Leben am Puls der 1960er- und 1970er-Jahre, epochale Tanzpartnerschaft mit der fast 20 Jahre älteren Primaballerina Margot Fonteyn, Arbeit mit den besten Choreografen und Ensembles seiner Zeit, immenser Reichtum, von 1983 bis 1989 Ballettdirektor der Pariser Opéra National, parallel dazu langsamer, quälender (Bühnen-)Abstieg geprägt von einem tapferen, aber vergeblichen Kampf gegen seine AIDS-Erkrankung, Tod am 6. Januar 1993 in Paris.

Das ist mein Leben

Nurejews Leidenschaft für das Ballett begann an einem Silvesterabend in Ufa (der Hauptstadt Baschkiriens in Russland), als Farida Nurejew ihre vier Kinder mit nur einer Eintrittskarte ins Opernhaus schmuggeln konnte. Auf dem Spielplan: das Ballett „Der Gesang der Kraniche“, eine baschkirische Entsprechung von „Schwanensee“. Der siebenjährige Rudolf war von Anfang an wie gebannt: „Ich wusste: Das ist es, das ist mein Leben. Das wird mein Beruf. Ich wollte auf der Bühne stehen und alles sein“, zitiert Julie Kavanagh den Tänzer in ihrer Biographie. Von da an nahm der Tanz bei ihm die oberste Stelle ein – alles andere galt es unterzuordnen. Leidenschaftlich, energiegeladen und zielstrebig, zugleich arrogant und selbstherrlich verfolgte er fortan diese Maxime, und wohl nur so war ihm angesichts seiner Herkunft ein Leben als Tänzer überhaupt erst möglich.

Einfluss der Tradition

Zwei Jahre nach dieser Aufnahme wurde Rudolf Nurejew österreichischer Staatsbürger: hier als Prinz Florimund in seiner Fassung von „Dornröschen“ an der Wiener Staatsoper (1980). Foto: Wiener Staatsballett/Axel Zeininger

Zwei Jahre nach dieser Aufnahme wurde Rudolf Nurejew österreichischer Staatsbürger: hier als Prinz Florimund in seiner Fassung von „Dornröschen“ an der Wiener Staatsoper (1980). Foto: Wiener Staatsballett/Axel Zeininger

Dabei mangelte es ihm jahrelang an professioneller Ausbildung und infolgedessen an klassischer Balletttechnik. Trotz körperlicher und technischer Defizite attestierte man ihm jedoch schon im Alter von zehn Jahren eine erstaunliche Bühnenpräsenz sowie eine absolut professionelle Haltung zum Tanzen. Großen Einfluss auf Rudolf hatten damals die traditionellen Tänze seiner Heimat: der russische Volkstanz aus der Ukraine, aus Moldawien und den Kosakensteppen. So war es insbesondere die Rolle aus „Le Corsaire“, in der Nurejew Jahre später sowohl in Leningrad als auch 1959 bei seinem Debüt im Westen, bei den Weltjugendfestspielen in Wien, nicht nur zu überzeugen, sondern zu begeistern verstand. Gerhard Brunner (1976-1990 Ballettdirektor der Wiener Staatsoper) brachte in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung von 2003 die Besonderheit des sowjetischen Jungtänzers auf den Punkt: „Alles Farbe, Feuer, Furor (…). Der 21-jährige Nurejew tanzte mit einer Vehemenz, die schier den Atem nahm (…). Er zog die Blicke auf sich, er fesselte sie, er bannte sie durch die geschmeidige, auch erotische Qualität seiner Bewegungen. Gespannt, geduckt vermittelte er augenblicklich, was ihn zeitlebens hinausheben würde über die Heerscharen jener, die lediglich gut, sehr gut oder gar hervorragend tanzten. Er hatte Charisma.“ Nurejew verband klassischen Tanz und gewaltige Sprungkraft mit einer unglaublichen Bühnenpräsenz, mit Leidenschaft und sinnlicher Ausstrahlung.
Seine spontane Flucht in den Westen, als er im Juni 1961 am Ende eines Gastspiels des Kirow-Balletts am Pariser Flughafen Le Bourget seinen KGB-Bewachern entkam, ermöglichte Nurejew eine Weltkarriere. Seinen Schritt in die Freiheit begleiteten die Medien mit großer Spannung, sofort taten sich viele Türen für ihn auf. Der Preis, den er dafür zahlte: Heimatlosigkeit, Unruhe, Verfolgungsangst. Dessen ungeachtet suchte Nurejew beständig die tänzerische Herausforderung. Er wollte sich mit berühmten Choreografen und Kollegen messen, westliche Schulen und Stile (von Bournonville über Graham bis hin zu Balanchine) erlernen und sich weiterentwickeln. Der einzige Tänzer, den er dabei als gleichwertig oder überlegen anerkannte, der Däne Erik Bruhn, wurde seine große Liebe. Emotionale Erfüllung sollte Nurejew jedoch nicht finden, vielmehr galt er als ein von Sexgier und Egoismus Getriebener.

Große Eleganz

Im Tanz verfeinerte Nurejew mit großem Eifer seine Technik und entwickelte sie individuell weiter. So überraschte er zu Beginn der 1960er-Jahre mit großer Eleganz, femininen Bewegungen, hoher Fußhaltung, nach oben gerichteten Posen und Pirouetten, die er in absolutem Einklang mit der Musik zu beschleunigen oder zu verlangsamen vermochte. Seine Kunst schien sich gleichsam durch seine Tanzpartnerschaft mit Margot Fonteyn zu potenzieren. Bereits ihre erste gemeinsame „Giselle“-Aufführung vom 21. Februar 1962 in Covent Garden ging in die Geschichte ein, wobei die bemerkenswerte Symmetrie und Simultanität beider Tänzer verblüffte; sie schienen die Musik auf identische Weise zu hören und waren wie Spiegelbilder zueinander. Das Tanzpaar Nurejew-Fonteyn feierte über viele Jahre sensationelle Erfolge und wurde legendär.

Eine langjährige Partnerschaft verband Nurejew von 1964 bis 1988 auch mit der Wiener Staatsoper, an deren Beginn eine Inszenierung Nurejews stand, die zum Triumph und Kassenschlager werden sollte: „Schwanensee“, basierend auf Marius Petipa und Lew Iwanow, choreografiert von Nurejew. Dieser erklärte seine Inszenierung später selbst als verbesserungswürdig, sein Hauptziel habe er aber erreicht: einen der großen russischen Klassiker in Mitteleuropa wiederzubeleben und durch seine Änderungen einen neuen Diskurs anzuregen. Er rüttelte auf, und die Tänzer sahen sich vor die Aufgabe gestellt, ihren bis dahin gepflegten lokalen Tanzstil durch harte Arbeit weiterzuentwickeln, ihre Tradition mit der des Kirow-Theaters zu verschmelzen – eine Leistung, die Nurejew mit seinen Choreografien russischer Klassiker bei den bedeutendsten Compagnien der Welt gelingen sollte. Typisch für seine Arbeit war insbesondere, die Rolle des männlichen Solotänzers aus ihrer früheren Zweitrangigkeit hinter der Primaballerina herauszulösen, sie mit einer eigenen künstlerischen Identität zu versehen und technisch virtuos anzureichern.

Ungebrochene Ausdruckskraft

Am liebsten glänzte Nurejew selbst in diesen eingefügten oder erweiterten Soli und bestach während der 1960er-Jahre mit seinem makellosen klassischen Stil. Allerdings wurde dieser durch unablässiges Herumreisen sowie durch die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Lehrern gegen Ende des Jahrzehnts zunehmend beeinträchtigt. Nurejews dramatische Ausdruckskraft und Bühnenpräsenz blieben hingegen ungebrochen und wurden von ihm zunehmend auch im modernen Tanz eingebracht. Dieser stand damals dem klassischen Ballett noch als eigenes, streng abgegrenztes Genre gegenüber. Für Nurejew bedeutete dies erneut einen gewagten Schritt in die Freiheit. Rückblickend betrachtet erleichterte er künftigen Tänzern dadurch den Brückenschlag zwischen beiden Genres. Nurejew arbeitete unter anderem mit Jérôme Robbins, Maurice Béjart, Martha Graham, George Balanchine und John Neumeier zusammen, sein Repertoire umfasste mehr als 80 verschiedene Rollen vom klassischen bis zum zeitgenössischen Ballett. Am Schluss war er immer mehr von seiner Krankheit gezeichnet und geschwächt – dennoch gefeiert. Er förderte insbesondere junge begabte Tänzer und arbeitete unermüdlich als Ballettdirektor und Choreograf bis kurz vor seinem Tod. Am 17. März 2013 würde Rudolf Nurejew 75 Jahre alt.

Birgit A. Rother

Nachgefragt: Welche Bedeutung kommt Rudolf Nurejew aus heutiger Sicht zu?

John Neumeier, Ballettdirektor und Chefchoreograf des „Hamburg Ballett“:
„Rudolf Nurejew ist zweifellos der berühmteste und einflussreichste Tänzer der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Er hat die Bedeutung und die Rolle des männlichen Tänzers verändert und durch seine Kunst und Erscheinung ist ein neuer Tänzertypus entstanden. Das durch ihn neu entstandene ,Bild‘ steigerte entscheidend die Bedeutung des männlichen Tänzers und hat so Generationen geprägt, weltweit Tänzer und Choreografen inspiriert.“

Vladimir Malakhov, Intendant des „Staatsballett Berlin“, Tänzer und Choreograf:
„Nurejew ist der größte Star des Balletts. Und er war ungeheuer fleißig. Er wurde nie müde, seine ganze Energie in die Arbeit fließen zu lassen. Damit hat er sehr viel für das Ballett getan und für die Popularität der Tanzkunst. Mit seiner Leidenschaft und Hingabe hat er nicht nur die Theaterwelt, seine Kollegen und Freunde mitgerissen und beeinflusst, sondern mehrere Generationen von Zuschauern in den Bann geschlagen. Er konnte gar nicht anders! Das ist für mich das Phänomen Nurejew.“

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