Schwerpunkt: ILLUSION & BÜHNE
Täuschende Illusionskraft
Über die Darstellung von Massenszenen im Musiktheater
Seit der Französischen Revolution und dann im 19. Jahrhundert wurden Chorpartien im Musiktheater immer länger, der Personalaufwand immer größer. An Hofbühnen und Stadttheatern entstanden institutionelle Chöre mit ausgebildeten Stimmen und geübten Laien für ein gestrafftes Aufgabenmanagement. Diese erfüllten die immer anspruchsvolleren Aufgaben und inspirierten auch die Verantwortlichen für Musik, Drama und Bühne zu Steigerungen von bislang ungeahnten Ausmaßen. So wurden nicht nur durch Bühnenbilder, sondern auch mittels der bewegten Personen-Kollektive auf der Bühne räumliche Tiefenwirkungen erzeugt und gesteigert. Damit einher ging eine Differenzierung der Chorpartien durch Atmosphäre, Kolorit und Ausdruck. Nach 1787 griffen Chorpartien in die Handlung ein und agierten mit beziehungsweise gegen die Individuen. Separat komponierte Stimmgruppen wie „Soldaten“, „Bürger“, „Sklaven“ oder „Priesterinnen“ traten nicht mehr abwechselnd, sondern gleichzeitig auf. Sie wurden für die bis zum Ersten Weltkrieg als theatrales Mittel dominierenden Tableau-Wirkungen bei Verdi, Meyerbeer, Mussorgsky & Co. unverzichtbar.
Nebliger „Dalibor“ am Staatstheater Augsburg mit Scott MacAllister in der Titelrolle. Foto: Jan-Pieter Fuhr.
Bühnenchöre, welche im 19. Jahrhundert die räumlichen Dimensionen von Text und Komposition zu bewegten Bildern machten, reichten von Auseinandersetzungen politischer Gegner wie in „Aida“ bis zu hinter der Szene gesummten Windböen in „Rigoletto“. Szenische Mittel steigerten die Illusion großer Räumlichkeiten: Von den durch König Ludwig II. von Bayern veranlass-ten Münchener Mustervorstellungen des „Tannhäuser“ (1867) ist bekannt, dass beim Pilgerchor zuerst die erwachsenen Sänger auf der vorderen Bühne auftraten und Kinderstatisterie auf der hinteren Bühne. Die demzufolge nach hinten geringere Körpergröße der Mitwirkenden führte im Zuschauerraum zu einer Wahrnehmung des Wartburgtals mit längerer Perspektivenverengung und damit größerer räumlicher Ausdehnung. Diesen Effekt verstärkte zum einen die Bühnenmalerei, zum anderen die Konturen verwischende Gasbeleuchtung. Und heute?
Noch immer wollen große und kleine Theater aufwändige Effekte und imposante Massenwirkungen. Aber das Auge der Zuschauer weiß mehr über Effekte und ist durch die ständige Auseinandersetzung mit Medien schwieriger zu täuschen und weniger bereit sich täuschen zu lassen als zur Entstehungszeit der großen Choropern des Standardrepertoires. Auf ganz großen Bühnen spielen maximal 150 Sängerinnen und Sänger, manchmal unterstützt von Tanzensembles und Statisterie. Sie werden zu Hundertschaften zum Beispiel von Volksmassen, gegnerischen Gruppen, Kriegsopfern oder himmlischen Heerscharen.
„Dalibor“ an der Oper Frankfurt mit Angela Vallone (Jitka), Theo Lebow (Vítek) und Ensemble. Foto: Monika Rittershaus
Es geht in den Partituren auch musikalisch um die Illusion von noch mehr räumlicher Tiefe und noch mehr personeller Fülle. Dieses theatrale Bedürfnis entstand also schon über hundert Jahre vor der Konkurrenz zwischen Regietheater und Video. Der Anspruch bleibt für die Netflix-Generation gültig und verschiebt sich auch auf die XXL-Screens im Eigenheim. Einerseits fordert Theater immer eine gewisse Stilisierung, andererseits sind Zuschaueraugen heute an einen durch visuelle Medien gewährleisteten Komfort gewöhnt. Demzufolge erwarten sie eine realismusnahe, im Idealfall bestechende Darstellung auch im Theater.
Regieteams kommen diesem unausgesprochenen Bedürfnis mit unterschiedlichen Mitteln nach und reizen andererseits das Publikum zu hohen Erwartungen. An der Oper Frankfurt versetzte Florentine Klepper Smetanas „Dalibor“ (2019) aus dem späten Mittelalter Böhmens in die Mediendiktatur einer nahen Zukunft. Unruhige Lichtläufe deuteten an, dass außerhalb des Telestudios und dem darin stattfindenden Tribunal rebellische Kräfte gären. So zeigte Klepper die auf der Bühne dargestellten Gewalt-Eskalationen und Schutztruppen-Einsätze mit überschaubar wirkenden Gruppen von Cops und Rebellen. Trotzdem herrschte der Eindruck totalitärer Gedrängtheit. – In Nicolas Joels Inszenierung von Wagners Chorspektakel „Rienzi“ an der Oper Leipzig drehte die Bühnenscheibe oft, lange und langsam. Durch die ständigen Auftritte, Abgänge und die Rotation entstand auf der Riesenfläche die dekorative wie imposante Bewegung von Massen, obwohl bei der Aufführung im Festival „Wagner 22“ von etwa 75 Chormitgliedern 21 wegen positiver Testung fehlten. Das Zuschauerauge erinnerte sich an den Beginn der Aufführung. Vor einem Portalvorhang mit einer alten römischen Stadtskizze stand der Chor in gedrängter Enge. Joel zeigte den Wandel von der verängstigt stehenden zur siegesgewissen Masse in stetiger Bewegung. In beiden Beispielen entwickelte die Regie realistische Bewegungen der Kollektive mit einer überschaubaren Zahl an Mitwirkenden, welche als Gruppe(n) weitaus größer wirkten als sie tatsächlich waren.
Chorsänger/-innen als Individuen in der „Aida“ am Nationaltheater Weimar. Foto: Candy Welz
Zwei mit ganz großen Opern bestens erfahrene Regisseure antworteten auf die Frage nach ihrer Strategie für „illusorische Vermassung“ im Musiktheater: „Das ist Berufsgeheimnis und Geheimrezept“, schrieb Roland Schwab, der blutige Dramen gerne noch etwas drastischer in Szene setzt und steigert, als die originalen Regieanmerkungen es vorsehen. Dabei ist seine Effekt-Architektur recht gut erkennbar. Nicht nur in „Dalibor“ (2018) am Staatstheater Augsburg nebelt er gerne die gesamte Bühne ein. Lichtsäulen und Neonstäbe schaffen bei Schwab eine eiskalte Atmosphäre wie im Horrorfilm oder Politthriller. Wenn die Silhouetten von Gestalten in Rüstung oder Schutzweste aufscheinen, vermutet das Publikum hinter der Nebelwand ein noch größeres Grauen. Schwab erarbeitet auch mit plastischen bis drastischen Kostümen Assoziationen von Machtdruck und Machtmissbrauch. Seine suggestiven Mittel verdichten Bedrohung durch sichtbare Massen und unsichtbare Instanzen.
„Grundsätzlich habe ich mir die Frage so noch gar nicht gestellt. Ein energetisch toll spielender Chor kann sehr wohl eine ‚große‘ Wirkung erzielen“, antwortete Jochen Biganzoli während der Proben zu Korngolds „Die tote Stadt“ in Meiningen. Damit setzt Biganzoli auch ein Plädoyer für die Individualisierung von Chorrollen. Er nennt „rückwärtige Spiegel“ als visionäres Mittel zur Steigerung der Personenfülle.
Richtig: Zum Beispiel bei Biganzolis für den Theaterpreis DER FAUST nominierter und kurz vor „Wagner 22“ aus dem Repertoire genommener Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ an der Oper Leipzig (2009) senkten sich Spiegel hinter dem Chor. Bei Biganzoli wurde Wagners Festwiese-Gesellschaft des 16. Jahrhunderts zum Publikum des genau 50 Jahre vor der „Meistersinger“-Premiere eröffneten Leipziger Opernhauses. Die Symbolik ist klar: Wir – die Darsteller und das Publikum – sind Teil der einen (Bühnen-)Welt. Obwohl kein seltenes Theatermittel, verfehlen rückwärtige Spiegel bei voller Bühne und vollem Zuschauerraum so gut wie nie ihre Wirkung.
Eine auch personaltechnisch bemerkenswerte Individualisierung betrieb Andrea Moses am Deutschen Nationaltheater Weimar. Wegen Corona spielte die Staatskapelle Weimar die oft als Arena-Spektakel missverstandene „Aida“ (2021/2022) in einer von Verdi autorisierten kleineren Besetzung. Auf der Bühne gab es „nur“ den Opernchor, ohne Ballett. Moses zeigt, wie eine um Wiedergutmachung ihrer kolonialen Schuld bemühte Zivilgesellschaft von einer Gruppe mit einem fundamentalistischen und rassistischen Wertesystem usurpiert wird. Jede Person bei der zum Staatsakt aufgewerteten Beutekunst-Vernissage im ersten Bild ist individualisiert. Alle ziehen diese Rollen durch, bis die vom Chor gespielten Individuen nach dem Putsch hinter nivellierenden Vermummungen verschwinden: das affektierte Herrenpaar, die Society-Hyäne, akademische Nerds und erlebnishungrige Groupies. Moses erzählt vom Ende des Pluralismus in der Uniformität einer Diktatur: Auf freien Flächen zwischen den Vitrinen des dem Berliner Humboldt-Forum ähnelnden Schauplatzes wurden die Chorszenen zum Gewusel einer desorientierten Zivilgesellschaft. Es fällt auf, dass psychologische Mittel der Regie auch anderweitig für den Chor eingesetzt werden, wenn Musiktheater für ein soziologisches Planspiel mit potenziellem Wirklichkeitsanspruch genutzt wird.
Neben physischen und visuellen Tricks liegt es immer an szenischen und räumlichen Lösungen sowie am Aktionspotenzial vor allem der Chöre, ob und wie ein „Theater der Massen“ dem Publikum imponiert. Die Suggestion und kreative Kraft von personeller Unendlichkeit entsteht im Musiktheater oft, wenn man den Spielraum von der Bühne in den Zuschauerraum ausdehnt. Das gilt für die über die Sessel im Parkett des Theaters Bonn gelegten Laufstege und Flächen im Mittelteil von Meyerbeers Singspiel „Feldlager in Schlesien“ in der Regie von Jakob Peters-Messer an der Oper Bonn. Für das sitzende Publikum ergaben sich durch das Spiel auf den Rängen, der Bühne und an den Seiteneingängen ständig perspektivische und akustische Überraschungen. Das gilt ebenso für die „Aida“-Inszenierung von Benedikt von Peter an der Deutschen Oper Berlin, welcher nur die drei am Liebeskonflikt beteiligten Figuren auf die Bühne ließ und die große Chorbesetzung auf Sitzplätze im gesamten verdunkelten Zuschauerraum verteilte.
Es gibt demzufolge viele Mittel zur Illusion personeller Massen-Vergrößerung. Aber nicht immer wirkt eine vollgefüllte Bühne oder Teilfläche auch aus dem Zuschauerraum randvoll oder leer. Videos sind allerdings kein wirksames Mittel zur Verstärkung personeller Fülle. Gewiss bieten sie atmosphärische, inhaltliche und informelle Zusatzleistungen, welche die szenisch-musikalische Präsenz eines Chors ergänzen. Wer nur einmal während Corona eine Verdi- oder Wagner-Oper ohne szenische beziehungsweise physische Präsenz des Chors erlebt hat, weiß das. Illusionäre Ergänzungen kommen demzufolge nie ohne eine stabile personelle Basis aus, welche diese generell erst ermöglicht. Zahlreiche Streaming-Initiativen von Musiktheatern während der Pandemie haben gezeigt, dass kein noch so raffiniertes und den Kostenrahmen belastendes Kameraequipment aus geringen Chorstärken auf der Bühne in der Übertragung oder Nachproduktion eine glaubhafte und die Zuschaueraugen täuschende Illusionskraft zu entwickeln vermag.
Roland H. Dippel |