Editorial
Im toten Winkel der Gesellschaft?
„Steuergeldverschwendung! Fahrendes Volk bekommt 50 Prozent mehr Gage“. Eine derartige Überschrift suchten wir in der „Bild“-Zeitung Anfang des Sommers vergeblich. Gott sei Dank? Ja, natürlich! Aber andererseits: Das flaue Medienecho auf den – wie auch immer man ihn bewerten mag – doch sehr spektakulären Tarifabschluss, der Ende Juni dadurch erzielt werden konnte, dass drei Gewerkschaften ihre sehr unterschiedlichen Stärken gezielt und koordiniert eingesetzt haben, gibt mir doch zu denken.
Tobias Könemann. Foto: Johannes List
Stellen wir uns einmal vor, die Beschäftigten der Schlachtfabriken oder der „Amazon“-Verteilzentren, die unter ähnlich prekären Bedingungen arbeiten wie der Teil der NV-Bühne-Beschäftigten, der nun von diesem Abschluss unmittelbar profitiert, hätten Ähnliches erreicht. Ich bin mir sicher, dass die – auch mediale – Öffentlichkeit sich mehrheitlich mit lautstarken Sympathie-Bekundungen überschlagen hätte. Warum also so gar keine Resonanz bei den Bühnenkünstler/inne/n? An der Zahl kann´s nicht liegen – „Amazon“ beschäftigt in Deutschland auch nicht nennenswert mehr Menschen. Weil (professionelle) Kunst nicht als die harte, konzentrierte und kräftezehrende Arbeit wahrgenommen wird, die sie ist? Vielleicht – ich erinnere nur an den ausgelatschten Witz „Und was machen Sie tagsüber?...“.
Aber das reicht als Erklärung nicht aus. Die Kunst – und gerade auch das Theater – legitimiert sich ja auch dadurch, dass sie der Gesellschaft den Spiegel vorhält, auch wenn darin dann zuweilen eine Fratze erscheint. Das aber scheint irgendwie nicht in die Zeit zu passen, so wichtig es gerade in der derzeitigen krisengebeutelten Situation wäre. Es ist doch bemerkenswert, wie sehr sich unsere Wohlfühlgesellschaft, tatkräftig unterstützt durch allzu viele Politiker/innen, darauf versteift, dass die wahren Bedrohungen trotz Pandemie, Klimawandel, Kriegen, Energieknappheit und ähnlichen existenziellen Herausforderungen im Maskentragen, in Tempolimits auf Autobahnen, eingeschränkten Urlaubsreisen oder vernünftig temperierten Schlafzimmern liegen sollen. Dann ist es ja nur natürlich, dass auch Kunst allenfalls als Konsumgut wahrgenommen wird – und Konsumgüter haben billig und unproblematisch jederzeit bereitzustehen. Alles, was stört, in Frage stellt, zum Weiterdenken anregt, gar Verzicht nahelegt, wird im besten Fall verdrängt, im schlechtesten verteufelt. Die „Querdenker/innen“ machen´s vor.
Einer solchen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, funktioniert naturgemäß nicht mehr, ist vielleicht sogar kontraproduktiv. Vielmehr gilt es, andere Kommunikationsformen, eine andere Sprache zu finden, um die Menschen zu erreichen. Dies aber ist gerade in einer Zeit, in der die Kommunikation insbesondere der jüngeren Generationen immer mehr medial ausgerichtet ist, für ein „live-Medium“ wie das Theater besonders schwer. Der Hinweis darauf, dass, wenn die reale Welt zugrunde geht, auch die virtuelle sich in Nichts auflösen wird, dürfte wohl kaum reichen. Vielmehr sollten wir die Möglichkeiten der digitalen Welt, insbesondere die der „virtual reality“ (s. dazu auch S. 24/25 und 33/34), offensiv in die zukünftige Arbeit einbeziehen, nicht nur um die darin schlummernden kreativen Potentiale zu erschließen, sondern auch, um den gesellschaftlichen Wirkraum des Theaters zu erweitern.
Auch ich kenne keine Lösung, weiß noch nicht einmal, wie man rationale und emotionale Ebenen miteinander verknüpfen soll. Aber ich bin davon überzeugt, dass das Theater seine Rolle nicht kampflos aufgeben darf – und dafür müssen wir weiterhin seine Strukturen, seine Finanzierung (auch hinsichtlich angemessener Gagen!) und die Arbeitsbedingungen der in ihm Wirkenden stabilisieren und ausbauen.
Und wenn wir gar dereinst in der „FAZ“ lesen können, dass endlich auch für Bühnenkünstler/innen familienfreundliche Arbeitszeitmodelle vereinbart worden sind, waren nicht nur wir Gewerkschaften erfolgreich, sondern auch das Theater darin, seine Position in der Gesellschaft jedenfalls ein Stück weit zurückzuerobern.
Tobias Könemann
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