Schwerpunkt: ILLUSION & BÜHNE
Ein Traum von Wirklichkeit
Überlegungen anlässlich eines Besuchs in der Theaterstadt Meiningen
Begeisterte Besucher des Meininger Theatermuseums in der ehemaligen Reithalle fragen an der Kasse durchaus schon mal nach, warum denn die Bühnen heute nicht mehr so aussehen, wie sie hier ausgestellt werden. Kein Wunder, denn es sind die sorgfältig gehüteten und gepflegten originalen Prospekte aus der Zeit des Meininger Theaterherzogs Georg II. (1826-1914), die ihre Faszination ausüben. Seit der Eröffnung des Theatermuseums vor 22 Jahren wurden bereits 15 Szenenbilder aus verschiedenen Inszenierungen konserviert und in Wechselausstellungen gezeigt. Von „Wallensteins Lager“ aus Schillers gleichnamiger Tragödie über den Zauberwald aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ bis zum Schlachtfeld Fehrbellin aus Kleists „Prinz von Homburg“. Im Frühjahr 2022 folgte auf das Bühnenbild „Parklandschaft bei Fotheringhay Castle“ aus Schillers „Maria Stuart“ eine Kulisse aus Heinrich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“, die 1876 von den Coburger Theatermalern Brückner angefertigt wurde und seinerzeit auch beim Gastspiel der Meininger am Hoftheater in Berlin dabei war.
Theater Meiningen. Juwel der deutschen Theaterlandschaft. Foto: foto-ed.de/Erhard Driesel.
Das Staatstheater Meiningen und das Theatermuseum bewahren diesen Schatz nicht einfach im Dunkel eines Fundus. Der jüngste Versuch, sie zu neuem Leben zu erwecken, ist eine Prospekteschau als multimediales Bühnenprojekt unter dem Titel „Spiel der Illusionen“. Diese Reise in die „Zauberwelt der Kulisse“ ist natürlich eine Reise in die Vergangenheit. Sie bietet nicht nur die berühmten Kulissen, sondern sogar eine Begegnung mit dem Theaterherzog Georg II. und mit einem der Brückner-Brüder aus Coburg, die auch für die Uraufführung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth die Kulissen anfertigten.
Die Illusionsbühne gehört zum Erbgut des Theaters. Aber auch zu dem der Zuschauer. Die Illusion von Wirklichkeit und die eigene Erfahrung erleichtern allemal den Zugang zu den Stücken. Opulenten Bühnen, mit welcher Deutungsintention auch immer, fällt es leichter, die vierte Wand zu durchbrechen. Wobei heute auch da die Spanne zwischen dem Arenapomp eines Franco Zeffirelli und den Traumwirklichkeiten eines Aleksandar Denic˘ geradezu epochal ist. Bei Zeffirelli reiten die Stierkämpfer in seiner „Carmen“ auf echten Rössern nicht nur in die Arena von Verona, sondern auch ins sommerliche TV-Programm öffentlich-rechtlicher Sender ein. Während Denic˘s gänzlich andersartige, kongeniale, ebenfalls sinnliche Welten für Frank Castorfs Ring in den Sturm der Auseinandersetzung über dessen Zugang insgesamt gerieten. Wobei das in Ordnung ist, denn diese Art von Bühnenzauber ist ja tatsächlich identitätsstiftend. Genauso wie auf andere Weise Anna Viebrocks Wirklichkeitsverfremdung immer schon die halbe Marthaler-Inszenierung war.
In Zeiten der Abstraktion und der Überschreibung der Vorgaben von Text und Musik durch einen szenischen Rahmen – vom Triumph von Symbolen über die dezidierte Kargheit bis zum Trash – wird die Sehnsucht nach der Magie einer (vermeintlichen) Opulenz der Wirklichkeit oftmals auch zu einem Sehnsuchtsort. Wenn die Abonnentin an der Kasse fragt, wo denn „Otello“ oder die „Fledermaus“ diesmal spielen, dann steht dahinter eine Rezeptionserfahrung; mitunter auch ein entsprechend genährter Rezeptionsüberdruss.
Theater Meiningen. Portalinschrift am Theater. Foto: Theater
Nun lassen sich im ästhetischen Pluralismus von heute zwar Tendenzen ausmachen, gleichwohl existiert Gegensätzliches selbstbewusst und selbstverständlich nebeneinander. Diese Art von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des Nebeneinanders von Historischem und daraus Entstandenem, ist eine der wunderbaren Pointen speziell der deutschen beziehungsweise deutschsprachigen Theaterlandschaft. Sie macht deren Strahlkraft und Faszinationspotenzial für den neugierig wachen Zuschauer aus, auch wenn das manchmal vom Zuschauer- und Kritikergezänk vernebelt wird. Nüchtern betrachtet liefert das aber überhaupt erst die Maßstäbe für Vergleiche.
Der Zauber der Opulenz, die aus wiedererkennbaren Ingredienzien besteht, gehörte schon zum Geheimnis des Barocktheaters. In den letzten Jahren wurde das Erbe dieser Epoche nicht nur als Vorlage für ambitionierte Subtextdeutung oder Vergegenwärtigung en vogue (siehe Münchner Barockboom). Es konnte immer wieder auch, historisch reanimiert, in seiner verführerischen Opulenz bestaunt werden. Nicht als vermeintliches Abbild der Wirklichkeit, sondern als Erinnerung an seinen Entstehungskontext. Natürlich nicht wirklich im umfassenden Sinne. Das wäre wohl eine Überforderung der Sinne des spät- oder postbürgerlichen Zuschauers. Ebenso wie eine auch nur mäßig multimedial ausgestattete Inszenierung einen Zeitgenossen aus dem Barock ihrerseits überfordern müsste. Uns reichen heute das optische und das akustische Echo jener Epoche, den Geruch oder die Umstände des Zuschauens würden wir wohl kaum aushalten.
Was den Königen und Fürsten ihre Barocktheater waren, das war dann der aufsteigenden Bourgeoisie (vor allem in Frankreich) die entfesselte Show mit der damals modernsten Technik in der Grand Opéra. Dass auch diese mit etwas gebremster Vehemenz eine Renaissance erlebt, speist sich wohl aus einem ähnlichen Bedürfnis wie bei der Barockoper.
Die oft gerne eingeforderte Authentizität ist also zunächst von vornherein eine selektive Mogelpackung. In dem Zusammenhang akzentuierte Tobias Wolff in seiner Dramaturgie der Händel-Festspiele in Göttingen über Jahre vor allem den Wechsel zwischen weitgehend auf die Erinnerung an barockes Theater setzenden Inszenierungen einerseits und auf ambitionierte Neudeutung der Händelopern andererseits. Inszenierungen im Schein von echtem Wachskerzenlicht haben als eine Facette ihren ganz eigenen Reiz. Auch, weil man hinter den formalisierten Gesten barocker Bühnenfiguren nicht nur das Offensichtliche sieht und hört, sondern allemal auch das, was man weiß.
Neben der Illusion der barocken Theaterkunst, die sich vor allem in den erhaltenen Theatern wie denen in der Münchner Residenz, im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth, in den Rokokotheatern des Schwetzinger oder Potsdamer Schlosses oder in Goe-
thes Theater in Bad Lauchstädt entfaltet, haben die Meininger ab Mitte des 19. Jahrhunderts Maßstäbe gesetzt. Die Nähe zu Bayreuth und Wagners Gralsburg auf dem Grünen Hügel ist dabei natürlich kein Zufall. Der berühmteste Thüringer Theaterherzog mit seinem Meininger Theater- sprich Bühnenrealismus und der deutsche Überkomponist mit Langzeitwirkung (und „eigenem“ König), Richard Wagner, kamen sich dabei nicht wirklich ins Gehege, sieht man mal von der Rangelei um die Brückners bei ihrer Arbeit für die Ring-Uraufführung ab. Da sich der Theaterherzog ganz aufs Schauspiel konzentrierte, ließ er die Oper links liegen und machte aus seinem Schauspiel für ein paar Jahrzehnte eine obendrein mobile Musterbühne. „Die Meininger kommen!“, galt als Qualitätsfanfare. In ganz Europa! Eine Anekdote passt zur Theaterstadt Meiningen: Als den Herzog auf einer seiner Reisen die Schreckensnachricht erreichte, dass daheim sein Theater brenne, soll er zurücktelegraphiert haben: Kulissen retten, das Theater bauen wir neu. Selbst, wenn das nur gut erfunden ist: Getan wurde jedenfalls beides.
Das wieder in altem Glanz erstrahlende Haus (die Ästhetik ist sozusagen von des Herzogs letzter Hand!) ist als feudales Erbstück ein Juwel der deutschen Theaterlandschaft. Auch heute noch identitätsstiftend für eine ganze Stadt und mit überregionaler Ausstrahlung. Dieses Theater ist alles andere als ein Museum und probiert gerade wieder mal einen neuen Aufbruch. Aber es hat ein einzigartiges Museum! Gleich neben dem Schloss, ein paar Schritte vom Theater entfernt, kann man in Meiningen tatsächlich mit historischen Originalkulissen glänzen, die mit etwas beigefügter „Inszenierung“ gleichsam für sich selbst spielen, wirken und eine Welt imaginieren.
Joachim Lange
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