Hintergrund
Ein Fest fürs Auge
Die „freien“ Tanzcompagnien der Komischen Oper und der Deutschen Oper in Berlin
Wenn der Vorhang fällt nach Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ an der Komischen Oper Berlin, haben die Zuschauerinnen und Zuschauer 160 quirlige und äußerst unterhaltsame Minuten erlebt. Zentrale Komponente der Aufführung ist die Ballettcompagnie, die an diesem Abend in diverse Rollen geschlüpft ist: In rasantem Wechsel erlebt man deren Mitglieder mal als Bienchen, mal als halbnackte Satyre, schließlich natürlich auch als Cancan-Tänzerinnen und -Tänzer.
Ähnlich vielseitig tritt die Compagnie bei der Abschieds-Revue für und von Barrie Kosky „All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ auf: als Elvis-Verschnitte, als Südsee-Tänzer*innnen, als Clowns oder Cowboys und vieles mehr. Wenn hier allerdings von einer Compagnie die Rede ist, so nicht von einer Truppe festangestellter Tänzerinnen und Tänzer, sondern von einem „Pool“ an freien Künstler*innen, die für Opern- und Operettenproduktionen gebucht werden, je nach Bedarf und Konzept des Regieteams. Silvano Marraffa ist zuständig für eigentlich alles, was mit dieser Compagnie zusammenhängt, für die Castings, das Einstudieren der Choreografien, für alles Organisatorische.
„Orpheus in der Unterwelt“ an der Komischen Oper Berlin mit dem Tanzensemble und Max Hopp. Foto: Monika Rittershaus
Gleiches gilt für Silke Sense an der Deutschen Oper Berlin. 2004 wurde sie von der Leitung des Hauses gebeten, ein Opernballett zu gründen – nachdem das Berliner Staatsballett ins Leben gerufen worden war, das sich aus Mitgliedern der Compagnien aller drei Berliner Opernhäuser zusammensetzte, für die Mitwirkung an den Musiktheaterproduktionen der einzelnen Häuser nun aber nicht mehr zur Verfügung stand. Sense nahm Kontakt mit Tänzerinnen und Tänzern auf, die nicht übernommen worden waren, und machte daraus eine eigene Compagnie. Bald bewarben sich Tänzer*innen aus aller Welt, zum Beispiel aus den USA, Mexico, Skandinavien, Japan, Korea, England, Frankreich, Russland und aus der Ukraine. Auch hier gibt es keine Festangestellten; die Tänzer werden per Werk- oder Gastvertrag für einzelne Produktionen engagiert. Auch Silke Sense, die daneben als Spielleiterin tätig ist, ist quasi „Mädchen für alles“, was bei der Compagnie zu tun ist: Auditions, Engagement der Mitwirkenden, Einstudierung, Verträge und Abrechnungen. Manchmal ist sie auch als Choreografin gefragt. Von 1980 bis 1997 war sie selbst als Solotänzerin an der Deutschen Oper engagiert.
Im Gespräch mit den beiden Verantwortlichen zeigt sich ein großer Respekt vor diesen Künstlerinnen und Künstlern, die immerhin freiberuflich tätig sind und damit weniger Sicherheit haben als angestellte Tänzer*innen. Mit Beginn der Corona-Pandemie wackelte das Fundament für sie erheblich, nicht alle konnten von staatlichen Hilfen profitieren. Jetzt wird wieder getanzt, aber die Unsicherheit bleibt. Immerhin: An der Komischen Oper hat der Chor Spenden gesammelt, die dann den Mitgliedern der Tanzcompagnie zur Verfügung gestellt wurden. Auch die Deutsche Oper hat für die Tänzer*innen Geld gesammelt, nicht nur die Leitungsetage, auch Chor, Orchester und Förderverein waren sehr spendabel.
„Wir haben inzwischen einen Standard, dass mich Ballettcompagnien aus ganz Deutschland anfragen, wenn sie Tänzer brauchen“, berichtet Sense. Sie verfügt über einen Stamm mit etwa 40 Personen, der Pool, auf den sie – je nach Bedarf – zurückgreift, ist aber erheblich größer. Je nach den künstlerischen Erfordernissen der Inszenierung wird gecastet und ausgewählt.
Mitglieder der Ballettcompagnie der Deutschen Oper Berlin in „La Gioconda“. Foto: Bettina Stoeß
So verfährt auch Silvano Marraffa. „Es geht bei der Auswahl nicht nur darum, wer technisch am besten tanzt, sondern auch um Ausstrahlung und Persönlichkeit und darum, wer zu welchem Stück, welcher Rolle passt“, erklärt er. Die Tänzer*innen kommen von überall her – und müssen viel reisen, weil die Produktionen an viele Stätten der Welt verkauft werden. Barrie Kosky habe sehr viel Wert auf die Einbeziehung von Tanz in die Opern und Operetten gelegt und sei bei allen Castings dabei gewesen. Auch an der Deutschen Oper wird in zahlreichen Produktionen getanzt, insgesamt waren es seit dem Start 33, von denen viele noch heute auf dem Spielplan stehen.
Natürlich gibt es in Folge der freiberuflichen Konstellation häufige Wechsel. Wenn jemand ein festes Engagement erhält oder aus anderen Gründen ausscheidet, gilt es, Ersatz zu finden, zu engagieren und einzustudieren. Viele dieser „Freien“ setzen ihre berufliche Existenz aus verschiedenen Bausteinen zusammen: Sie tanzen zum Beispiel in der Off-Szene, machen eigene Choreografien oder unterrichten. Noch früher als festangestellte machen sich diese freien Tänzerinnen und Tänzer Gedanken über die „Zeit danach“. Für sie sei der Übergang ins zweite Leben nach der aktiven Karriere noch schwieriger als für die fest Engagierten. Auch hier hilft Silke Sense, wo sie kann, lässt sie trainieren, unterstützt beim Übergang zum Beispiel vom Tänzer zum Lehrer oder Trainer.
Auffallend ist nicht nur die Vielseitigkeit, die diese Tänzerinnen und Tänzer zeigen, sondern auch ihre Spielfreude, mit der sie quasi als handelnde Personen in die Produktionen eingebunden sind: ein Fest fürs Auge.
Das gilt im Übrigen auch für die tanzenden Chöre. Zu den Aufgaben von Marraffa und Sense gehört es auch, mit diesen zu arbeiten, wenn Choreografien für sie vorgesehen sind. Beide geraten dabei ins Schwärmen. Silvano Marraffa schätzt, dass die Chorsolisten der Komischen Oper vermutlich mehr tanzen als alle anderen Opernchöre. Und Silke Sense, sagt, die Arbeit mit dem Chor sei einfach wunderbar: „Ich liebe den Chor.“ Die Sängerinnen und Sänger hätten Freude daran, auf diese Weise herausgefordert zu werden. Schließlich haben sie nicht von ungefähr den Beruf des Sänger-Darstellers gewählt.
Barbara Haack |