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Berichte

Ballettbescherung

Goyo Monteros Doppelabend „Maria“ und „Narrenschiff“ mit dem Nürnberger Ballett

Das Nürnberger „Narrenschiff“ wurde zur beglückenden weihnachtlichen Ballett-Bescherung. In der Zeit von pandemisch begründeten Absagen, Verschiebungen, verkleinerten Besetzungen und notdürftig legitimierten Notprogrammen geriet der Abend zu einem apotheotischen Glücksereignis: neue Musik für volles Orchester mit maßvoller elektronischer Verlängerung, Goyo Monteros Griff nach den gefährlich hoch in den Sternen hängenden Sujets und die glänzende Gesamtleistung einer großen Compagnie mit Stargast Diana Vishneva.

„Narrenschiff“ mit dem Ensemble des Nürnberg Ballett. Foto: Jesus Vallinas

„Narrenschiff“ mit dem Ensemble des Nürnberg Ballett. Foto: Jesus Vallinas

Der Nürnberger Ballettchef beherrscht den Griff in die Vollen wunderbar. Die Besinnung der Bühnendesigner Leticia Gañán und Curt Allen Wilmer auf das glänzende Material von Schutzschlag-säcken garantierte eine Opulenz ohne Überladungen und ermöglichte sinnfällige Nutzung von zeichenhaftem Mehrwert. Das gemäß Hygienekonzept dünn besetzte Haus jubelte lautstark und enthusiastisch.

Montero will Mehrdeutigkeit und erzielt diese in beiden Stücken mit starker künstlerischer Geschlossenheit. Am Ende integriert Montero die Sopranistin Emily Newton in Bewegungsfolgen wie schon den Stargast Diana Vishneva als „Maria“ vor der Pause. Die Schönheitstrunkenheit von Lera Auerbachs so gar nicht gebrochenen „Dialogen mit Stabat mater“ (sie bezieht sich mit klaren und dabei schwelgerischen Harmonien auf Pergolesi) und Owen Beltons spannungsstark entwickeltes 20-Minuten- Prélude vor „Beim Schlafengehen“ und „Im Abendrot“ aus Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ gerieten zu Klangpanoramen mit fragendem Gestus. Dazu gibt es von der Compagnie nur ganz wenige parallele Tanzfolgen. Spannend sind im ersten Teil die synkopisch wellenartigen Arm- und Beinbewegungen, deren organisch wie energetisch stringente Ausführung. Diana Vishneva beleuchtet mit ihrer intensiven Ausstrahlung die fluide Ensembledynamik des Nürnberger Balletts.

Montero betreibt sinnlichen wie intelligenten Etikettenschwindel. Denn es geht in „Maria“ um die Gefährtin des Heilands, nicht um die Muttergottes. Die international führende Primaballerina zeigt einen sanften, fragenden, sich langsam bekräftigenden Abnabelungsprozess hin zur Autonomie – umgeben vom teils sympathetischen, teils mauernden Kollektiv. Im Apostelkollektiv gibt es mehr Frauen als Männer und gleich mehrere Individuen, die Opfer sind oder werden. Schließlich leistet Montero ein Choreografen-Meisterstück, wenn er neben der Persönlichkeit im Zentrum viele aus der Compagnie mit gleichgewichtigen Aufgaben bedenkt. „Maria“ ist ein Ensemblestück, in dem der Strahlenkranz oft kräftiger leuchtet als die Heiligenfigur selbst. Auch dank des physischen Dekorationsmaterials. Die verwendeten Folien sind Dach, Zelt, Schutzhülle, Mauer und Säule. Salvador Mateu Andujars fließend erdfarbene Kostüme bilden den visuellen Kontrapunkt.

Emilie Newton in ihren vielen Röcken aus weichem Plastik ist eine mit Strauss-Tönen lockende Rattenfängerin, der die menschlichen und im Hybrid-Individualismus degenerierten Schädlinge des „Narrenschiffs“ folgen. Dessen Autor, der humanistische Gelehrte Sebastian Brant, richtete seine scharfe Feder gegen die Verstiegenheit von Berufsgruppen, Eigenschaften und Verhaltensnormen. In einem christlichen Bezugssystem geißelte Brant Beschränkungen wie Tunnelblick, Opportunismus, Selbstgefälligkeit und Unbelehrbarkeit. Zu Owen Beltons perfekt konstruierten Akkordambientes bewegen sich Monteros junge Nerds und Konsumindividualisten in gläserner Stereotypie. Keinerlei Betrübnis oder Schatten beeinträchtigt diese durch ein unsichtbares Räderwerk gesteuerte Harmonie, aber der Bühnenraum zeigt kalte Isolation.

Ein Pas de deux fesselt die Tanzenden mit einem langen Strumpf, der ihre Gesichter umhüllt. Mit solch symbolischer Blindheit sind alle Wesen auf Monteros „Narrenschiff“ geschlagen. Sinnsuche und Sinnverlust sind durch Ausstattung, Bewegung und Konstruktionen vielschichtig aufeinander bezogen. Das ist alles sinnfällig durchdacht, feiert mit ehrlicher Freude die theatrale und tänzerische Präsenz. Francesco Sergio Fundarò am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg ließ die Musik dazu leuchten.

Roland H. Dippel

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