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Berichte
Große Oper – trotz Pandemie!
Corona-Chronik der Oper Dortmund und die Entdeckung der Grossen Oper „Frédégonde“
„Geändert haben sich die Begleitumstände und Bedingungen, die Erkenntnisse bleiben weiterhin gültig“, sagte Intendant Heribert Germeshausen am Nachmittag des 20. November in seinem Büro, zwei Stunden vor der Premiere der personalintensiven Oper „Frédégonde“. Es ging darum, welche in „Oper 2020. Eine Dokumentation aus der Oper Dortmund“ resümierten Erfahrungen für die dritte und vierte Corona-Welle Gültigkeit behalten. Hauptthema des im Frühjahr 2021 in der Reihe Thurnauer Schriften des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth erschienenen Bandes sind die Auswirkungen der Pandemie auf den Spielbetrieb eines Subventionstheaters. Viele Anmerkungen und Erfahrungen aus den Interviews und Aufsätzen gehören inzwischen zum kollektiven Erfahrungsschatz von Kulturschaffenden. Trotzdem ist die Publikation sehr wichtig. Denn sie reflektiert Auswirkungen der Pandemie, Maßnahmen, auch die Ratlosigkeit bis zum Beginn der zweiten Infektionswelle und während des ersten Lockdowns aus Perspektive eines großen Kulturbetriebs. Das Buch beinhaltet also Erfahrungen einer Berufsgruppe und Gesellschaftsnische, die zum Beispiel in den Aufsatzsammlungen „Die Corona-Gesellschaft“ und „Jenseits von Corona“ des Transcript-Verlags trotz Mitwirkung von Geisteswissenschaftlern weggeblendet, übergangen oder vergessen wurden. Theaterschaffende und deren Umfeld – Regie, Werkstätten, Stadtverwaltung, Presse, Verlag, Leitung – erhielten in „Oper 2020“ ein Forum zur Darstellung ihrer Wahrnehmungen über rapid beschleunigte Reaktions- wie Veränderungsprozesse – und ihrer Gefühle. Vieles, was in dem Band differenziert erörtert wird, gehört inzwischen zum Theateralltag, etwa der soziale und ästhetische Umgang mit nur zum Teil gefüllten Zuschauerräumen, ungewohnte Zwischenformen von Theater- und Streaming-Ereignissen, das Phänomen der „Geisterpremiere“ für wenige zugelassene Gäste und das vorbereitende Denken für multiple Aufführungsmöglichkeiten in physischen und/oder digitalen Formaten.
Anna Sohn (Brunhilda). Foto: Björn Hickmann, Stage Picture
Im Gespräch erwähnt Germeshausen ein Hauptthema der Herbstwochen kurz vor dem Angstschub angesichts der Omikron-Variante: den Impffortschritt, wobei dieses Thema aufgrund der im November 2021 in Relation zu anderen Bundesländern verhältnismäßig niedrigen Inzidenzwerte in Nordrhein-Westfalen weniger relevant war als zum Beispiel in Sachsen.
Zwei Axiome für Kulturbetriebe haben in der dritten Spielzeit mit durch Corona verursachten Unsicherheiten eine stabile, invariable Gültigkeit. Der Regisseur Martin G. Berger formulierte offene Produktionsmodalitäten im Konjunktiv: „Ich fände es aber wichtig, bei konzeptionellen Erwägungen alternative Formate und alternative Formen des Liveness mitdenken und abwägen zu dürfen, weil ich glaube, dass eine größere Durchmischung verschiedener Formate an Stadt- und Staatstheatern gerade auch im Musiktheater eine langfristige Notwendigkeit unterstreichen und sichern würde.“ Corona beschleunigt das Nachdenken über Kulturbetriebe in Zivilgesellschaften. Ein Theater hat für Jörg Stüdemann, den Dortmunder Dezernenten für Finanzen, Liegenschaften und Kultur, dann optimale Relevanz, wenn es soziale Prozesse spiegelt: „In der Konsequenz hat ein Musiktheater der Zukunft jenseits der geliebten Traditionen und des erprobten Kanons geschätzter Opernliteratur diese gesellschaftlichen Impulse aufzugreifen, um sie als zeitgemäße Kunstformen veredelt neuen Publikumsschichten ergänzend zum Stammpublikum zu präsentieren.“
An anderen Stellen ist in „Oper 2020“ von Besetzungsverkleinerungen, Strichfassungen und Modifikationen die Rede, mit denen Werke für verschiedene Formen praktikabel gemacht werden könn(t)en. Diese betreffen allerdings oft jene Bühnenkollektive, deren Proben und Auftrittsmöglichkeiten durch Hygienekonzepte verkompliziert oder zur Gänze unmöglich wurden: Vertreter oder Mitglieder des Opernchors, des Balletts und des Orchesters kommen in „Oper 2020“ leider nicht zu Wort.
Deshalb war der dritte Anlauf zur diesmal tatsächlich stattgefundenen Premiere „Frédégonde“ umso wichtiger: Die Oper Dortmund leistete mit dieser Produktion ein Bekenntnis zum Musiktheater auf Spezialistenniveau mit vollem Orchester und Chor. Für die Koproduktion der während der Völkerwanderungszeit spielenden Oper von Camille Saint-Saëns, Paul Dukas und Ernest Guiraud mit Palazzetto Bru Zane, dem Zentrum für französische Musik der Romantik, wollte man keine Kompromisse. Deshalb wartete man auf ein Premierendatum, an dem eine Aufführung mit personeller und musikalischer Vollständigkeit realisierbar war. Möglich wurde diese international mit großem Interesse erwartete Produktionsentwicklung in drei Etappen. Zuerst dachte Regisseurin Marie-Eve Signeyrole unter „normalen“ Bedingungen an eine Inszenierung mit szenischem Spiel auf der Bühne und dem Orchester im Graben. Als sich das zerschlug, plante man eine konzertante Aufführung zu einem mit dem Dortmunder Ensemble und Opernchor produzierten Film. Dieser wurde in nur wenigen Tagen in und um Schloss Bodelschwingh gedreht. Als die Hygiene-Maßnahmen zu Beginn der Spielzeit 2021/2022 gelockert wurden, entschloss sich die Theaterleitung zu insgesamt vier Vorstellungen mit dem Orchester auf der Bühne. Mit den Solisten und mehreren exponierten Komparsen wurde die erste Version der physischen Personenregie in ein den Film ergänzendes, erweiterndes und rekapitulierendes Bewegungsvokabular transformiert. Der Opernchor sang quasi konzertant im Parkett. Nur die Ränge waren für Publikum freigegeben.
In akustischer Hinsicht überzeugte bei der Premiere von „Frédégonde“ nicht nur ein starkes Solisten-Ensemble mit Hyona Kim (Frédégonde), Anna Sohn (Brunhilda), Sergey Romanovsky (Mérowig) und Mandla Mndebele (Hilpéric) in den Hauptpartien. Die ungewohnte Positionierung der Solisten auf der Vorderbühne, also vor beziehungsweise unter der Filmleinwand, begünstigte die in der französischen Grand Opéra des 19. Jahrhunderts immer bedeutsamen musikalischen Raumwirkungen. Diese kamen weitaus besser zur Geltung als mit dem Orchester im Graben und allen singenden Mitwirkenden hinter dem Portal. Das Schachspiel der verfeindeten Machthaberinnen ist im Film der Ausgangspunkt für viele szenische und symbolische Assoziationen, unter anderem eine Szene mit Chormitgliedern als Schachfiguren im frühlingsfrostigen Park von Bodelschwingh. Einwände zu Details der Konnektivität zwischen Bühne und Film beeinträchtigen den fulminanten Gesamteindruck nicht. Auf der Leinwand kostete Laurent La Rosa die Möglichkeiten erotischer und brutaler Aktionen dieser Oper in den Schlossräumen mit dramaturgisch motivierten Kamerafahrten genussvoll aus.
Wichtig für die während der Pandemie erprobten Aufführungsformate ist die Dortmunder Produktion von „Frédégonde“ auch deshalb, weil sie die Möglichkeit einer Oper als Stummfilm mit physischer musikalischer Aufführung oder potenziell beizufügender Tonspur zur Diskussion stellt. Als Aufzeichnung oder Streaming würde die Synchronität von Film und die szenische Präsenz von dessen Darstellern an Wirkung einbüßen. Für weitere vergleichbare Projekte wäre es sinnvoll, die Methodik der szenischen Reibung am kaum veränderlichen Filmmaterial zu untersuchen. Insgesamt hat dieses Inszenierungsmodell überregionale Bedeutung, weil es verschiedene Liveness-Präsentationen zulässt und alle bestehenden Personalkapazitäten eines großen Opernhauses nutzt – ohne Kompromisse gegenüber einer in Besetzung und Umfang anspruchsvoll dimensionierten Partitur. Es geht also doch: Große Oper in großen Besetzungen während der Pandemie.
Roland H. Dippel
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