Portrait
Qualität und Bürgernähe
Der Opernchor des Theaters Altenburg-Gera im Porträt
Probenalltag im lichtdurchfluteten Chorsaal des Theaters Gera. Chorleiter Gerald Krammer arbeitet mit den Frauen an einem Wortwechsel zwischen erotischem Interesse und geifernder Häme. In Vorbereitung ist Tschaikowskis „Eugen Onegin“ – nicht in russischer, sondern in deutscher Sprache. Laut Partitur sollten zwei verschiedene Gruppen agieren, in der Neuproduktion des Theaters Altenburg-Gera singen aber alle (fast) alles. Zwangsläufig: Denn eine Teilung der Stimmen ist bei nur 21 festen Positionen wie im Opernchor des Theaters Altenburg-Gera nicht ohne weiteres möglich. Mit der Verstärkung durch einige Chorgäste (und bei den Solisten durch Studierende des Thüringer Opernstudios) kommen personalintensive Opern wie Tschaikowskis „Mazeppa“ oder Enescus „Oedipe“ mit den seit 1995 fusionierten Ensembles der Theater Altenburg und Gera besonders gut an. Wilhelm Dieter Sieberts „Der Untergang der Titanic“ war im Sommer 2019 ein interaktives Spektakel, bei dem sich Zuschauer als Passagiere unter die Darsteller mischten. Gleichzeitig war die Produktion das Finale im Theater Altenburg vor dessen Renovierungsphase und dem Umzug der Ensembles in ein Theaterzelt. Derzeit spielt man dort also in Nähe des Sees mit dem Inselzoo und etwas unbequemer Entfernung zum Zentrum.
Chorleiter Gerald Krammer leitet auch den in Sinfoniekonzerten mitwirkenden Philharmonischen Chor sowie den Kinder- und Jugendchor des Theaters Altenburg-Gera, der eigene Produktionen wie das Musical „13“ von Jason Robert Brown realisiert und dazu in Aufführungen oder Konzerten eine bemerkenswert hohe Auftrittsfrequenz hat. Einen Extrachor für den Theaterbetrieb gibt es derzeit allerdings nicht, dessen geplanter Aufbau erweist sich in der vom strukturellen und demographischen Wandel geprägten Region als schwierig. Solorollen werden auch deshalb nur ausnahmsweise mit Chormitgliedern besetzt, denn jede fehlende Stimme würde die Qualität vom Gesamtklang des Opernchors beeinflussen.
„Eugen Onegin“ mit Kai Wefer als Hauptmann und dem Opernchor. Foto: Ronny Ristok
Theatergeschichte bedeutet seit der 1995 vollzogenen Fusion der beiden 35 Kilometer voneinander entfernten ostthüringischen Theater „Schrumpfungsgeschichte“. Der Geraer Opernchor hatte zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung 1990 noch 36 Mitglieder, was etwa seiner Größe im Jahr 1924 entsprach. Dazu kamen 16 Kollegen/-innen des Landestheaters Altenburg, so dass der gesamte Chor in einer Übergangsphase aus 50 Personen bestand. Die darauf einsetzenden Wirtschafts- und Personaldebatten im Freistaat mit der in Relation zur Einwohnerzahl (2019: 2,14 Millionen) höchsten Dichte an Subventionstheatern und Kulturorchestern gingen durch die Medien. Intendant Michael Grosse trat im Jahr 2000 aufgrund beschlossener Personalreduzierungen zurück. Haustarifverträge mit einem durch Freizeit ausgeglichenen Gehaltsverzicht von erst 20 Prozent unter dem ein Jahr vor Vertragsende ebenfalls zurückgetretenen Generalintendant René Serge Mund (2000 bis 2004), später von 13,5 Prozent sollten drastische Personaleinsparungen verhindern. 70 Stellen aus Chor und Orchester standen damals zur Disposition. Der nunmehr vierte Haustarifvertrag vom 15. Dezember 2016 bringt an seinem Ende zum 31. Dezember 2021 den Flächentarif für die Beschäftigten mit dem Verzicht auf das 13. Monatsgehalt (etwa 5,66 Prozent eines Jahresgehalts) ab dem 1. April 2021.
Gemessen am Bundesdurchschnitt besteht am Theater Altenburg-Gera (eine eigene Sparte ist zudem das einzige Staatsballett Thüringens mit 22 Tänzer/-innen und 14 Eleven/-innen) heute eine ungewöhnliche Proportion zwischen Chor- und Orchesterstärke: 21 Chorpositionen, zu denen bei Neuproduktionen wie „Hoffmanns Erzählungen“, Hans Sommers „Rübezahl und der Sackpfeifer von Neisse“ oder „Peter Grimes“ in der Regel fünf bis sechs Gäste verpflichtet werden, stehen 76 Orchesterstellen gegenüber (am Theater Erfurt kommen 41 Chor- auf 76 Orchesterstellen, in Magdeburg 36 Chor- auf 96 Orchesterstellen, in Mainz 35 Chor- auf 69 Orchesterstellen).
Dass die Theaterleitung das Jubiläum des Geraer Theaterchores nicht anlässlich eines fixierten Datums feiert, hat auch historische Gründe: Weniger bekannt als im Falle des Meininger Theaters oder der Münchner Hofoper unter Ludwig II. von Bayern ist, dass das Jugendstil-Theaterhaus mit eigenem Konzertsaal für die damals größte Stadt im heutigen Thüringen seine Entstehung adeliger Kultursucht verdankte. Vielleicht sogar noch intensiver als in den beiden anderen Residenzstädten, denn in Gera war die Durchlaucht höchstselbst Dramaturg. Heinrich XLV., Prinz Reuß jüngerer Linie (1895 bis wahrscheinlich 1945), wirkte ab 1923 am damaligen „Reußischen Theater“ und gründete 1931, nachdem seine Familie dieses an die Stadt Gera überschrieben hatte, das Tournee-Ensemble „Deutsche Musikbühne“. Eine direkte Blicklinie vom leicht erhöhten (und heute zerstörten) Schloss Osterstein geht über den Ortsteil Untermhaus und die Orangerie zum Theater: Die vergoldeten Lettern „Musis Sacrum“ prunken an der Hauptfassade. Weil die Ambition auf ein großes Haus in der Stadt mit um 1900 knapp 50.000 Einwohnern zielte, wurde dieses nicht im Zentrum, sondern in Nähe des Geraer Hauptbahnhofs gebaut. Das Publikum sollte Züge mit einem dem Theaterspielplan angeglichenen Fahrplan nutzen können. Nach dem Bau 1902 war das Fürstliche Hoftheater erst ein Schauspielhaus. Während des Ersten Weltkrieges kam es 1916 zur Einrichtung einer Operetten-Sparte mit eigenem Personal, die auf „Wunsch Heinrichs XXVII. zugunsten eines Opernensembles wieder abgeschafft“ wurde (zitiert nach der Festschrift: Musis Sacrum. 100 Jahre Theaterhaus Gera 1902 bis 2002). In der Spielzeit 1918/1919 gab es einen Theaterchor mit „zehn Herren und neun Damen“, und „der Extra-Chor besteht aus zwölf Damen und zehn Herren“.
„Ein Maskenball“ mit Isaac Lee als Riccardo, Miriam Zubieta als Oscar und dem Opernchor. Foto: Ronny Ristok
Noch heute hat man von der Kantine im neuen Anbau mit der Bühne am Park und dem Besucherservice einen malerischen Blick auf Höhenzüge mit der Schlossruine und die Villenstraße neben dem Orangeriepark. Im Gespräch dort mit den Chor-Vorständen sind weder Demotivation noch Resignation spürbar. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die mit beträchtlichem Einsatz bewältigten Bestandsgefährdungen das Kollektiv zusammenschweißen. Generalintendant Kay Kuntze nutzt alle Möglichkeiten der ertrotzten Personalkapazitäten des Fünfsparten-Betriebs. Auch deshalb gibt es immer lohnende Aufgaben für den Chor: Im Herbst kam es im Monty-Python-Musical „Spamalot“ zu einer Zusammenarbeit mit dem Schauspielensemble, im Frühjahr folgt die Ballett-Uraufführung „Da Vinci“ von Silvana Schröder mit Werken von Jean Sibelius und Arvo Pärt. Theater und Philharmonie Thüringen leisten sich also den an mittelgroßen und kleinen Häusern zunehmend seltenen Luxus von Tanz-Produktion mit großem musikalischen Personal. Die Geraer sind Ballettomanen, und einheimische Enthusiasten besuchen packende Produktionen wie „Jenufa“ mehrfach. Eine derart dichte und in Mitteldeutschland nicht überall selbstverständliche Publikumsbindung entsteht auch durch Vorstellungen in deutscher Sprache, deren Einstudierung von den vielen ausländischen Ensemblemitgliedern als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Daran hat sich im Lauf der Jahre und unter wechselnden Chorleitern wenig geändert.
Wenige Stimmen bedeuten nicht reduzierte Stimmkraft. Im Petersburg-Bild gelingen Wirkungen wie an einem ganz großen Haus.
Für die Vorstellungen von „Eugen Onegin“ gibt es lauten, lebhaften Beifall. Wenige Stimmen bedeuten nicht reduzierte Stimmkraft. Im Petersburg-Bild gelingen Wirkungen wie an einem ganz großen Haus: Martin Fischer baute zur symbolischen Trennung der drei Hauptfiguren (unter diesen Anne Preuß als großartige Tatjana) und ihrer Lebenswelten drei riesige Rahmen. Eine „klassische“ Polonaise zerfleddert in einen Danse
macabre von Todesboten mit Schädelmasken. Dahinter promeniert der Opernchor – ganz in Schwarz mit glänzenden Accessoires. Das wirkt wie die Hommage zu einem Jubiläum, das nur für die eine Seite der fusionierten Theaterensembles Gültigkeit besitzt. Wie feiert man das? Denn das Gründungsjahr war in Gera 1918, während in Altenburg bereits Ende des 18. Jahrhunderts Aufführungen mit Chor nachweisbar sind. Aber es zählt vor allem eines: Ein lebendiger Spielplan und Entdeckungen bewirken in Gera und Altenburg Lust auf ein Theater, das Anspruch und Bürgernähe mit bemerkenswerter Qualitätskontinuität zu verbinden weiß.
Roland H. Dippel |