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Berichte
Oper im Paketzentrum
»Chaosmos« – Logistik-Oper in Wuppertal
Eine Logistik-Oper? Das hat es in dieser Form vermutlich noch nicht gegeben. Besonders aufregend klingt das allerdings erst einmal nicht. Immerhin, das dramaturgische Potenzial logistischer Probleme ist ein noch weitgehend unerforschtes Terrain. Liebestolle Primadonnen, gescheiterte Lebenskünstler oder heldenhafte Meuchelmorde sucht man hier vergebens, insofern ist das Sujet der am Theater Wuppertal uraufgeführten Oper „Chaosmos“ tatsächlich mal etwas Neues. Auch hinsichtlich Struktur und Komposition des Werkes geht man neue, zeitgeistige Wege: Interaktion heißt das Zauberwort. Das Publikum darf mitbestimmen, indem es die Reihenfolge der Abschnitte mitbestimmt, aus denen sich die Komposition zusammensetzt – zumindest zum Teil.
Der Titel ist somit gleichzeitig Programm. Zusammengesetzt aus Chaos und Kosmos werden in dem von Marc Sinan (Komposition), Tobias Rausch (Idee und Texte) sowie Konrad Kästner (Video) verantworteten Projekt die organisatorische Präzision logistischer Abläufe in Bezug zum Großen und Ganzen des Kosmos gesetzt. Die Rahmenhandlung spielt in einem von der Außenwelt abgeschotteten Paketzentrum, in dem vier Roboter und zwei menschliche Mitarbeiter Pakete sortieren. Eine „interaktive Versuchsanordnung für Orchester, Solisten, Performer und Gabelstapler“ nennt sich das Ganze, doch mit der Interaktion ist es dann doch nicht so weit her. Die beschränkt sich darauf, dass das Publikum anfangs Ordner mit Teilen der Noten für die Musiker in bestimmte Regalabschnitte einsortieren darf. Der Platz ist vorgegeben, allein die Reihenfolge unterliegt dem Zufall. Das war’s dann auch schon mit der Interaktion.
Einen Dirigenten gibt es nicht, die Synchronisation aller Beteiligten erfolgt mithilfe einer Software.
Timothy Edlin (Bariton). Foto: Jens Grossmann
Das funktioniert am Premierenabend ziemlich gut, nicht zuletzt, weil das musikalische Material auch genau im Hinblick darauf konzipiert ist. Improvisatorische Elemente sind ebenfalls mit dabei, ansonsten aber gibt es vorwiegend Zeitgeistiges zu hören. Platziert sind die Musiker auf zwei Gerüsten direkt hinter dem Eisernen Vorhang, das Publikum sitzt in einem Halbkreis um die Spielfläche auf der Bühne herum.
Angereichert wird die Handlung durch Videosequenzen, die auf eine Leinwand oberhalb der Musiker projiziert werden. Verschiedene Zeiten, Orte und Handlungsebenen werden hier miteinander verschränkt: Videosequenzen zur Genese der historischen Ordnungsprinzipien des Naturforschers Carl von Linné treffen hier auf Bilder des Vietnamkriegs, dessen versorgungstechnisches Chaos schließlich zur Erfindung des Hochseecontainers und der modernen Logistik führte. Geschichte und Problematik der kolonialen Grenzziehung in Afrika werden schließlich im dritten Handlungsstrang thematisiert, der auf die Leinwand projiziert wird. Zusammen mit der logistischen Rahmenhandlung ergibt sich eine Art Meta-Ebene der zivilisatorischen Errungenschaften, die im Detail immer wieder an ihre selbstgezogenen Grenzen stößt.
Das Erstaunliche an dem Abend ist, dass die an sich wenig spektakuläre Rahmenhandlung durchaus dramaturgisches Potenzial bietet. Denn nicht alles läuft nach Plan: ein fehlgeleitetes Paket, Unstimmigkeiten zwischen den beiden Arbeitern des Paketzentrums, aufkommende Neugier, die naturgemäß nicht im System vorgesehen ist. Am Ende führt das dazu, dass alles zusammenbricht, Big Bang im Paketzentrum. Damit ist die dortige perfekte Ordnung dahin. Auch zum Schmunzeln hat das Publikum in den pausenlosen 90 Minuten der Aufführung durchaus das ein oder andere, sei’s ein Gimmick in den projizierten Videos, sei’s in einer Anspielung auf Janosch: „Oh wie schön ist Dänemark“, heißt es an einer Stelle, und am Ende brechen die beiden Mitarbeiter aus und machen sich auf die Suche danach.
Wendy Krikken (Sopran), Iris Marie Sojer (Mezzosopran), Adam Temple-Smith (Tenor), Timothy Edlin (Bariton) und Statisterie. Foto: Jens Grossmann
Die Verbindung von Musik, Szene und Multimedia hinterlässt in „Chaosmos“ einen durchwachsenen Eindruck. Zwar ist die Idee originell, im Detail aber noch ausbaufähig, nicht nur im Hinblick auf die Interaktion. So dauert es anfangs eine gefühlte Ewigkeit, bis die Handlung ins Rollen kommt. Zuerst werden alle einsortierten Partiturordner registriert, gescannt und schließlich an die Musiker verteilt, was sich ziemlich lange hinzieht. Dann erscheint die Abfolge der einzelnen Szenen im Hinblick auf die Handlung nicht immer schlüssig. Das ist natürlich auch der variablen Szenenfolge geschuldet, das Problem somit konzeptinhärent. Die musikalische beziehungsweise darstellerische Seite der Aufführung hingegen ist ausgezeichnet. Rike Schuberty und Annemie Twardawa geben die beiden Lagerarbeiter Joe und Jay, das androide System wird ebenso unterkühlt wie präzise von vier Sängern (Wendy Krikken, Iris Marie Sojer, Adam Temple-Smith und Timothy Edlin) dargestellt. Am Ende erklingt Bach, die unvollendete Fuge aus der „Kunst der Fuge“. Und auch in dieser hier durch das Zufallsprinzip fragmentierten Version zeigt sich: Man kann es drehen und wenden wie man will, Bach klingt immer. Trotz – oder gerade wegen – des Chaos.
In jedem Fall ist das Experiment ein spannender Beitrag zur zeitgenössischen Oper, der jedoch weiterentwickelt werden kann – und auch soll. Denn die Wuppertaler Inszenierung wird nicht die einzige bleiben. Über drei Spielzeiten und drei Spielstätten wird dieses Format unter dem Namen „NOperas!“ in Wuppertal, Halle und Bremen gespielt und immer weiter verändert werden. Damit soll den immer unterschiedlichen Aufführungssituationen Rechnung getragen und für jede Station eine ortsspezifische Variante des Stückes entwickelt werden. Getragen und gefördert wird das Projekt vom Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm), dem NRW KULTURsekretariat und der Kunststiftung NRW.
Guido Krawinkel |