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Kulturpolitik

Auf ein Wort mit...

Peter Spuhler, Generalintendant des Badischen Staatstheaters Karlsruhe // Im Gespräch mit Barbara Haack und Tobias Könemann

Peter Spuhler ist seit 2011 Generalintendant des Badischen Staatstheaters Karlsruhe. Nach Stationen unter anderem in Wien, Rostock und Tübingen leitete der gebürtige Berliner von 2005 bis 2011 das Theater Heidelberg. In Karlsruhe gründete Spuhler zwei neue Sparten, das „Junge Staatstheater“ und die Bürgerbeteiligungssparte „Volkstheater“. Jetzt hat die Stadt Karlsruhe massive Kürzungen für den Etat des Hauses angekündigt. Gleichzeitig stehen Sanierung und Ausbau des Theatergebäudes an. Für „Oper & Tanz“ sprachen Barbara Haack und Tobias Könemann mit dem engagierten Intendanten.

Barbara Haack: In Karlsruhe brennt es. Das Theater soll 3,6 Prozent pro Jahr sparen. Protest gab es nicht nur in der Stadt, sondern bundesweit. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

Peter Spuhler: Für die nächsten zwei Jahre haben wir eine Lösung gefunden. Allerdings ist die Tatsache, dass wir in einer so reichen Stadt und mit einem Theater, das in den letzten Jahren viele Aufgaben erfüllt hat, überhaupt über Kürzungen verhandeln müssen, immer noch schwer zu verstehen. Man hat uns positiv angerechnet, dass wir aus eigenen Mitteln ein Kinder- und Jugendtheater gegründet haben, und der Gebäudeunterhalt und die Energiekosten wurden aus der Berechnungsgrundlage für die Einsparungen herausgenommen. Das bedeutet: Mit zusammengebissenen Zähnen konnten wir für die nächsten zwei Jahre eine bedeutende Ermäßigung der Einsparungen erreichen. Völlig unklar ist aber noch, ob diese Verringerung in den darauffolgenden Jahren nicht wieder addiert wird und sich damit die Situation erheblich verschärft.

Könemann: Besteht nicht durch das Herausrechnen bestimmter Kosten aus der Bemessungsgrundlage die Gefahr, dass damit auch der Landeszuschuss gekürzt wird?

Peter Spuhler. Foto: Florian Merdes

Peter Spuhler. Foto: Florian Merdes

Spuhler: Der Landeszuschuss muss laut Staatsvertrag entsprechend dem städtischen Zuschuss gekürzt werden. Das heißt, das Staatstheater wird doppelt belastet – und das, obwohl das Land eigentlich gar nicht kürzen will. Man meinte, städtischerseits mit einer Kürzung von 3,6 Prozent im Kulturbereich einen Schlüssel gefunden zu haben, der für alle verkraftbar ist, hat dann aber verstanden, dass das von Theaterseite aus gar nicht geht. So ein allgemeiner Schlüssel, der Gerechtigkeit will, ist eben nicht gerecht, weil er unterschiedliche Verhältnisse gleich setzt und Institutionen mit gemachten und nicht gemachten Hausaufgaben gleich behandelt. Wenn ich innerhalb des Betriebs zwei neue Sparten etabliere, das Kinder- und Jugendtheater und das Volkstheater, bei gleichbleibendem Etat, dann bedeutet das ja schon eine Einsparung.

Für mich ist die Vermittlungsarbeit, die hier erforderlich war, ein großes Thema. Es herrscht leider ein zunehmendes Unwissen bei den Politikern darüber, was eine Produktion kostet, wo das Geld hingeht, warum das Theater vermeintlich so teuer ist. In den letzten Jahren hat sich das Berufsfeld für mich als Intendant verschoben. In Zeiten, in denen noch Geld da war, waren wir in der Hauptaufgabe Künstler, Künstlerentdecker, Künstlerförderer und Kunstvermittler. Jetzt sind wir zunehmend Manager und Kulturpolitiker.

Haack: Sie kommen ja aber eigentlich aus der künstlerischen Richtung. Wie ist das für Sie persönlich?

Spuhler: Ich bin grundsätzlich sehr gerne Intendant. Ich habe auch kein Problem damit, mir neue Bereiche anzueignen. Politisches interessiert mich sowieso. Was mich allerdings beschäftigt: Eigentlich sollte es doch so sein, dass die Politik dem Theater- und Kunstbetrieb den Rücken freihält, damit wir zum einen bestmöglich Kunst machen können, zum anderen diese wichtige Institution zeitgemäß gestalten. Wie vermittelt man besser, was wir tun? Ich habe beschlossen, den Politikern ein offenes und transparentes Theater anzubieten, ihnen die Möglichkeit zu geben, einen bis drei Tage in einer Abteilung ihrer Wahl mitzuarbeiten und sich einen Eindruck vor Ort zu verschaffen. Ich will Begegnungen mit den Mitarbeitern herbeiführen. Es braucht vielleicht den direkten Kontakt mit dem Arbeiter an der Maschine oder die Künstler im Gespräch, damit die Probleme wirklich verstanden werden. Deswegen sind auch die Gewerkschaften so wichtig, damit aus anderem Munde noch einmal bestätigt wird: Es geht nicht.

„Die Passagierin“ am Badischen Staatstheater mit Andrew Finden (Tadeusz), Luiz Molz (Zweiter SS-Mann), Barbara Dobrzanska (Marta), Florian Kontschak (Erster SS-Mann), Christina Niessen (Lisa) und Statisterie. Foto: Falk von Traubenberg

„Die Passagierin“ am Badischen Staatstheater mit Andrew Finden (Tadeusz), Luiz Molz (Zweiter SS-Mann), Barbara Dobrzanska (Marta), Florian Kontschak (Erster SS-Mann), Christina Niessen (Lisa) und Statisterie. Foto: Falk von Traubenberg

Ich stelle jedenfalls fest, dass in den letzten Jahren eine enorme Arbeitsverdichtung stattgefunden hat. Wesentlich weniger Mitarbeiter müssen deutschlandweit wesentlich mehr leisten. Hinsichtlich unserer Zuschauer haben wir das Problem, dass die breite bürgerliche Mitte nicht mehr existiert. Das heißt: Wir müssen im Theater stärker diversifizieren. Wir müssen neue Zuschauerschichten erschließen. Wir müssen eine sehr unterschiedliche Bevölkerung für uns interessieren. Das bedeutet einen wesentlich höheren Bedarf an Pädagogen und Dramaturgen. Wenn man diese existenziell wichtigen neuen Stellen ohne zusätzliche Gelder ausschließlich durch Umwandlung schaffen muss, dann führt das zu einer erheblichen Arbeitsverdichtung.

Könemann: Völlig richtig. Bei den Chören ist es ja so, dass sie immer schon eine Dauerbelastung haben, in mehr oder weniger jeder Musiktheaterproduktion zum Einsatz kommen. Aber es gab früher sechs Premieren pro Spielzeit, jetzt sind es in den meisten Häusern sieben oder acht.

Spuhler: Wir müssen für ein neues Publikum neues Musiktheater entwickeln, wir brauchen ein vielfältigeres Reper-
toire. Neue, unbekannte Werke erfordern ganz andere Einstudierungsphasen. Ausreichende Probenzeiten, ausreichende Ruhezeiten, Ausgewogenheit im Arbeitsalltag und auch die Bezahlung: Das sind Themen, die uns grundsätzlich beschäftigen müssen. Da ist etwas in den letzten zehn Jahren ins Rutschen gekommen. Der NV Bühne ist die Grundlage unserer Arbeit, den müssen wir erhalten, aber auch reformieren. Wir haben ein Vertragswerk, das davon ausgeht, dass Sonderbeanspruchungen immer wieder durch besondere Freiphasen ausgeglichen werden. Wenn jetzt diese Freiphasen aufgrund der Arbeitsverdichtung nicht mehr vorhanden sind, muss man dringend über die Vertragsgrundlagen reden. Auch die Einstiegsgehälter sind zu niedrig. Aber natürlich sehe ich auch die Problematik in den neuen Bundesländern: Höhere Einstiegsgehälter dürfen nicht zu weiteren Entlassungen und weiterer Arbeitsverdichtung führen.

Könemann: Oder zur Auflösung der Ensembles. Gäste sind ja unter Umständen billiger als das ganze Ensemble. Das ist ein Mechanismus, den wir gerade in den Tarifverhandlungen versuchen zu durchbrechen, indem wir Mindestgagen für Gäste erstmals tarifieren wollen.

Spuhler: Das Ensembletheater ist aus meiner Sicht die beste und auch kostengünstigste Theaterform. Ich bin sehr froh über die VdO und die GDBA als Vertragspartner. Ich glaube, alle Intendanten haben erkannt, dass es eine Stärkung des NV Bühne im Sinne einer Weiterentwicklung geben muss.

Auch im Ballett ist das Badische Staatstheater politisch, hier mit „Anne Frank“ von Reginaldo Oliveira mit Flavio Salamanka als Kitty, Bruna Andrade als Anne Frank und dem Ensemble. Foto: Jochen Klenk

Auch im Ballett ist das Badische Staatstheater politisch, hier mit „Anne Frank“ von Reginaldo Oliveira mit Flavio Salamanka als Kitty, Bruna Andrade als Anne Frank und dem Ensemble. Foto: Jochen Klenk

Es ist ja im Übrigen nicht so, dass die Intendanten die Nachfolger der kapitalistischen ausbeutenden Fabrikbesitzer sind. Eigentlich liegen wir doch weltanschaulich auf einer Ebene. Die Theater betreiben fortwährend Aufklärung zur Frage, wie eine bessere Gesellschaft aussieht. Ich meine, man könnte viel häufiger als Verbündeter im Kampf um eine bessere Welt wahrgenommen werden, denn als Gegner.

Könemann: Das ist eine Aussage, mit der wir auch immer wieder an den Bühnenverein herangehen. Manchmal klappen gemeinsame Aktionen, aber sobald es um eine Beweglichkeit in Tarifverhandlungen geht, sehe ich eine Sperrfront. Ich vermute, dass sie von der Rechtsträgerseite kommt. Das Zusammenfassen von Rechtsträgern und Theatern in einem Verband, die sich im Grunde nicht näher stehen als Theater und Gewerkschaften, halte ich für kein glückliches Konstruktionsprinzip.

Spuhler: Sie berühren einen wunden Punkt. Ich sehe für diese Konstruktion allerdings keine Alternative. Aber sie führt tatsächlich gelegentlich zu einer bestimmten Nicht-Reaktions-Möglichkeit, weil dort zwei Parteien aufeinander treffen, die sich koordinieren müssen.

Haack: Zurück zum Thema Sparpläne in Karlsruhe. Sie sagten, die Kürzungen für die nächsten zwei Jahre bewegen sich in einem Maß, das verkraftbar ist?

Spuhler: … das sich mit zusammengebissenen Zähnen verkraften lässt. Uns fehlt aber immer noch die vollständige Anerkennung, dass am Haus tatsächlich Entscheidendes passiert ist in den letzten fünf Jahren. Da komme ich dann zum künstlerischen Aspekt. Wir alle zusammen, das gesamte Team, haben in den letzten Jahren extrem viel geleistet, um unser Theater zukunftssicher zu machen. Dieser notwendige Veränderungsprozess darf nicht durch Sparmaßnahmen unterbrochen oder verhindert werden. In Zukunft muss man investieren.

Haack: Was bedeutet das für das Theater in den nächsten zwei Jahren? Und danach?

Spuhler: Es gibt zwei Wege. Entweder die Haushaltslage der Stadt bessert sich und man stellt fest, dass man weitere Sparmaßnahmen nicht nötig hat. Schlimmstenfalls aber geht es so weiter, oder das jetzige Entgegenkommen muss sogar später doppelt kompensiert werden. Das wäre eine verheerende Situation, spätestens ab 2019.

Könemann: Ihr persönlicher Vertrag geht bis 2021, es würde Sie also noch treffen.

Spuhler: Weitergehende Kürzungen an diesem Haus, für das wir alle unser Herzblut geben, müssen wir zu verhindern versuchen. Hinzu kommt unser großes Projekt der Sanierung und Erweiterung, das politisch glücklicherweise unstrittig ist. Die Komplexität von Theaterbauten und -sanierungen wird oft unterschätzt. Die große Chance: Man gestaltet hier Zukunft. Das Problem: Die Fehler, die gemacht werden, begleiten die Theaterleute und Zuschauer gegebenenfalls für Jahrzehnte. Ein wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht die mangelnde Nutzerbeteiligung im Vorfeld der Planungen und bei der Bauausführung. Ein positives Beispiel für einen erfolgreichen Bau ist das Theater Heidelberg mit eingehaltenem Kosten- und Zeitrahmen. Stuttgart ist ein Gegenbeispiel. Dort gab es umfangreiche Probleme. Meiner Meinung nach liegt das an der mangelnden Nutzerbeteiligung. Wir kämpfen hier dafür, dass man uns einbezieht, auch um Geld zu sparen und keine strategischen Fehler für den späteren laufenden Betrieb zu machen.

Haack: Das klingt erst einmal sinnlos: Sie machen eine Sanierung mit umfangreichen Erweiterungsbauten und werden als diejenigen, die die Gebäude am Ende nutzen, nicht dazu befragt?

Spuhler: Die klassische Trägerhaltung ist, dass es teurer wird, wenn der Nutzer einbezogen wird. Aber nur wir Theaterleute wissen doch, was nötig ist und was nicht. Wirklich sparen kann man nur mit uns. Theater sind so komplexe Bauten, kein Außenstehender kann wissen, was dort wichtig ist. Glücklicherweise werden wir bei unserer Sanierung derzeit angemessen einbezogen und man hört auf unseren Rat.

Könemann: Steht bei den Kürzungsgedanken die Übernahme der Tariferhöhungen in Frage?

Spuhler: Nein, und darüber bin ich sehr froh.

Haack: Haben die bundesweiten und städtischen Proteste Wirkung gezeigt?

Spuhler: Ja, man ist so etwas in Karlsruhe nicht gewöhnt. Unsere Künstler sind durch die Sparandrohungen politischer geworden. Sie haben selber protestiert. Da ist ein Bündnis gegen Kultur- und Sozialabbau entstanden, das gemeinschaftlich agiert und die Akteure auch vernetzt.

Uraufführung 2017: „Wahnfried“ mit Christina Niessen als Cosima Wagner. Foto: Felix Grünschloß

Uraufführung 2017: „Wahnfried“ mit Christina Niessen als Cosima Wagner. Foto: Felix Grünschloß

Man hat mir unterstellt, ich hätte zu diesem Protest aufgefordert, aber ich habe eher versucht zu vermitteln, dass das erst die unterste Stufe eines bundesweiten Protestes bei einem so brisanten Fall ist, der die gesamten deutschen Theater betrifft. 

Könemann: Ein Gedanke, der hinter den Protesten steht, lautet ja: Wenn es schon in Karlsruhe so losgeht, dann ist niemand mehr sicher. Alle haben selber Angst bekommen.

Spuhler: Man glaubt mir auch nicht, dass mit einer Kürzung von 3,6 Prozent eine ganze Sparte gefährdet ist. Das wäre aber spätestens 2019 der Fall, wenn die Einsparungen sich erhöhen würden. Dann reden wir eventuell von der Abschaffung des Balletts.

Haack: Warum gerade das Ballett?

Spuhler: Weil 2019 die Ballett-Direktion neu besetzt wird.

Haack: Sie haben als Intendant hier bereits diverse Erfolge gefeiert, auch über die Stadtgrenzen hinaus. Wird das in der Stadt zu wenig gesehen?

Spuhler: Ich glaube, dass man einen großen Aufbruch in der Stadt verspürt, den wir gemeinsam geschafft haben. Was honoriert wird, ist, dass das Theater viel mehr in der Öffentlichkeit der Stadt präsent ist und stärker als Partner verstanden wird. Früher war das Theater ein Raumschiff, ein Staatsraumschiff in der Stadt. Wir fordern jetzt auf, uns als städtischen Partner zu begreifen. Unsere überregionale Bedeutung und die Chancen, die daraus für die Stadt entstehen, haben einige wichtige Akteure vor Ort noch nicht wahrgenommen.

Die klassische Trägerhaltung ist, dass es teurer wird, wenn der Nutzer einbezogen wird. Aber nur wir Theaterleute wissen doch, was nötig ist und was nicht. Wirklich sparen kann man nur mit uns.

Könemann: Wenn ich mir Ihren Spielplan anschaue, stelle ich fest: Sie haben einen klassisch-modernen Opernspielplan. Im Schauspiel merkt man das Bestreben, neue Bahnen zu gehen, stärker. Ich nehme an, das ist auch Teil des Konzepts?

Spuhler: Wir haben festgestellt – und das erstreckt sich auch auf die Oper –, dass es ein großes Bedürfnis gibt, politischer zu sein. Das hat mich sehr gefreut. Man fordert einen Spielplan von uns, mit dem wir gesellschaftliche Anliegen diskutieren, weniger Literatur- oder Ästhetik-Theater. In der Oper haben wir die Reihe „Politische Oper“ initiiert. Wir verbinden da zwei Begriffe, die man zuerst einmal nicht zusammendenkt: Oper und Politik. Das hat das Publikum in einem Maße angenommen, wie wir es selbst gar nicht erwartet hatten. „Die Passagierin“ zum Beispiel, ein Werk von Mieczysław Weinberg, das den Holocaust behandelt, hatte von Aufführung zu Aufführung mehr Zuschauer. Ich glaube, da haben wir etwas geschaffen, von dem man hoffentlich später sagen wird: „Das war die Zeit, in der es ‚Politische Oper‘ gab.“ Darauf bin ich richtig stolz.

Haack: Wird die Oper „Wahnfried“, die im Januar 2017 uraufgeführt wird, auch politisch?

Spuhler: „Wahnfried“ handelt von der Wagner-Familie und der Zeit zwischen Wagners Tod und Hitler. Die zentrale Figur neben Cosima ist Houston Stewart Chamberlain, auf dessen Rassenideologie Hitlers Judenvernichtung basierte. Ich verstehe das als hochpolitisch, auch wenn es ein historisches Sujet ist.

Haack: Erzählen Sie uns noch etwas über die neue Sparte Volkstheater?

Spuhler: Wir mussten da gegen Widerstände ankämpfen, auch im Haus: Warum brauchen wir das? Lenkt es nicht vom Kernbetrieb ab? Verwässert es das Label Staatstheater? Ist das nicht Sozialarbeit? Die Schwierigkeit lag darin zu vermitteln, dass es ein künstlerischer Prozess ist, dass es professionelle Regisseure sind, die mit Bürgern arbeiten. Im Ergebnis muss das als Kunstprojekt verstanden werden, nicht als Theaterpädagogik mit anderen Mitteln. Die Ergebnisse überzeugen erfreulicherweise sehr.
Auch in der Stadt kam sofort die Frage, ob man das nicht einsparen könne. Ich habe gesagt: „Achtung, ihr beschneidet damit eine der Zukunftsverankerungen des Theaters.“ In einer Gesellschaft, die immer mehr auf Beteiligung, auf mehr als passive Teilhabe drängt, ist ein Volkstheater wichtig.

Haack: Wie sieht es aus mit der Auslastung des Hauses?

Spuhler: Wir haben einen enormen Zugewinn, gerade im Schauspiel. 50 Prozent mehr Zuschauer als in der vergangenen Intendanz: Das haben wir unter anderem mit der Gewinnung neuer Zielgruppen erreicht. Das muss man auch für die anderen Sparten untersuchen: Warum zum Beispiel ist die Oper nicht der Ort, wo wir migrantischstämmige Besucher haben?

Könemann: Das ist nicht ganz einfach. Für viele gibt es die gesellschaftliche Hemmschwelle: Oper als Theater der Oberschicht.

Spuhler: Diese Fremdheit kann ja in der Erstbegegnung auch Neugier erzeugen. Die Frage ist: Weiß man ausreichend voneinander? Wie müssen wir auf diese Menschen zugehen? Mit wie vielen Sprachen müssen wir eigentlich agieren? Welches Programm müssen wir anbieten? Ich beschäftige mich sehr mit der Frage, wie das Theater der Zukunft aussieht. Das Theater als Forschungslabor und Innovationszentrum zu begreifen: Das macht mir großen Spaß.

Könemann: Sie haben ja auch noch die große Sparte Ballett, die in Karlsruhe prominent besetzt ist. Wie sehen Sie die im ganzen Konzert?

Spuhler: Wir befragen alle zwei Jahre unsere Zuschauer und beobachten die Veränderung des Publikums. Als ich hierher kam, war für mich sehr erstaunlich, dass das jüngste Publikum ins Ballett geht. Das ist spannend. Diese Sparte, die als hochtraditionell gilt, hat das jüngste Publikum. Offenbar haben die Menschen das Gefühl, dass hier die Grundqualität stimmt, unabhängig von Stück und Regisseur. Interessanterweise macht Birgit Keil auch sehr viel Modernes, fördert systematisch Choreografen, bietet als Ausbilderin immer Qualität, geht aber auch Wagnisse ein. Eine Nachfolgerin zu finden wird sehr schwer werden. Ballett ist in Karlsruhe – auch dank ihrer Arbeit – unverzichtbar.

Könemann: Zum Thema Ballettstudio: Wir sehen durchaus, dass der Übergang von der Ausbildung in den Beruf gestaltet werden muss, dass da auch viel im Argen liegt. Andererseits sehen wir die Gefahr, dass in Opern- oder eben auch Ballettstudios die Leute genauso eingesetzt werden könnten wie die Stammbelegschaft, um Stellen zu sparen. Wie ist das bei Ihnen strukturiert?

Spuhler: Wir haben ein komplexes Ausbildungssystem. Die Besonderheit ist, dass Ballettleitung und Ausbildung bei Birgit Keil und ihrem Mann in einer Hand liegen. Eigentlich beginnt die Sache schon einen Schritt vorher. Beide fahren ins Ausland, suchen dort interessante Tänzer, fördern diese mit Hilfe der Birgit Keil Stiftung und legen ihnen die Aufnahmeprüfung in Mannheim nahe. Wenn es nötig ist, wird die Ausbildung durch die Stiftung gefördert. Die Besten kommen dann in unser Ballettstudio und davon wiederum die Besten schaffen es ins Ensemble. Die erste Lücke im System ist nicht der Übergang vom Studium ins Theater oder die vermeintliche Ausbeutung. Wichtig ist eher die Frage: Wie bekommen wir die besten Menschen in unsere Tanzausbildung?

Was mich hinsichtlich der Tänzer beschäftigt: Wie ist der Wechsel in den zweiten Beruf nach der Tänzerlaufbahn? Was ist mit den Menschen, die wir alle bewundern und beanspruchen, bis sie in ihrem ersten Job berufsunfähig werden? Sie kehren häufig in ihre Heimatländer zurück, ohne zu wissen, welche sozialen Ansprüche sie bei uns erworben haben. Wie können wir hier das System verbessern, wie können wir helfen?

Könemann: Da arbeiten wir intensiv dran. Wir haben Anträge eingereicht, um das Mindestalter für die Inanspruchnahme der Tänzer-Abfindung wegfallen zu lassen, mindestens aber zu senken. Das Transition-Thema nehmen ja derzeit alle im Tanzbereich sehr ernst.

Letztes Thema: Ein wesentlicher Bestandteil der Tarifverhandlungen der letzten anderthalb Jahre sind Streamingrechte. Haben Sie konkrete Pläne für Ihr Haus? Sind Internet und Streaming notwendig für die künstlerische Weiterentwicklung des Theaters?

Spuhler: Ich glaube, das ist von großer Zukunftsrelevanz. Die Leute wollen vor dem Theaterbesuch keine Inhaltsangaben mehr lesen, sondern einen Film anklicken und sehen, wie die Produktionen konkret aussehen. Man will das Produkt kennen, in das man Eintrittsgeld „investiert“. Und es ist die einzige Chance, Menschen, die noch nie dort waren, für die Oper zu begeistern. Es geht um Marketing, Zuschauergewinnung, Programmvermittlung. Es wird sicher auch Beteiligungsmodelle geben, bei denen der Nutzer Einfluss nehmen kann, vielleicht Musiktheater, das es nur im Netz gibt. Da ist noch Raum für eine neue Kunstform.

Könemann: Sehen Sie mittelfristig eine wirtschaftliche Relevanz?

Spuhler: Eigentlich nicht. Ich glaube, das ist Marketing, Zukunftssicherung für das Theater. Wir werden alle diese Filme im Netz brauchen. Aber ein Ersatz für das Live-Erlebnis sind sie auf keinen Fall.


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