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Kein Wald für die Waldkinder
Christian Schullers „Hänsel und Gretel“ in Bremen · Von
Christian Tepe
Als wäre es ein Drama des jungen Gerhart Hauptmann klagt die
Mutter aus Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel
und Gretel“ in einem resignativen Verzweiflungsausbruch: „Müde
bin ich, müde zum Sterben! Herrgott, wirf Geld herab“.
Auf der Bühne hantiert sie dabei mit einem Döschen Schlaftabletten – und
unversehens spiegelt die Oper ein Stück bedrückender
sozialer Tagesaktualität. Für die am Theater Bremen gespielte
revidierte Textfassung hat die Schriftstellerin Elke Heidenreich
die auffallenden sozialkritischen Untertöne des Librettos
weitgehend beibehalten und teilweise sogar noch unterstrichen.
Nur der dichterischen Unbeholfenheit des Textbuches, die sich in
Reimen wie „Gretelchen – Brätelchen!“ manifestiert,
ist Heidenreich vorsichtig zu Leibe gerückt.
Allerdings ist Regisseur Christian Schuller weniger an einem naturalistischen
Armutsstück gelegen. Ihn interessieren wie Humperdinck die
psychischen Prozesse, die durch den Hunger – oder allgemeiner:
durch die versagte Bedürfnisbefriedigung – im Innern
der Kinder ausgelöst werden. Diese Erfahrungen kulminieren
in der Fantasiefigur der Hexe, für die der Regisseur weitab
von allen Aufführungsklischees eine sehr zeitgemäße
und ungemein stichhaltige Deutung findet. Die böse Magierin
erscheint als gleisnerischer Verführungsapparat, gesteuert
von den Handgriffen eines öligen Zirkusdompteurs aus dem Dunstkreis
der Unterhaltungsindustrie. Als ein individuelles Wesen existiert
die Hexe überhaupt nicht. Sie ist vielmehr nur das Erzeugnis
der schimärischen Verheißungen einer inhumanen Wohlstandswelt.
Ohne sich pädagogisch zu ereifern leistet diese Interpretation
wertvolle Aufklärungsarbeit über die für Jung und
Alt verheerenden Suggestionskünste der allgegenwärtigen
Agenten einer geist- und seelenlosen Massenkultur.
Nun sind Hänsel und Gretel bekanntlich zu gewitzt, um solchen
Versuchungen anheimzufallen. Doch warum die Hexe von den Kindern
besiegt werden kann, wird in Bremen nicht deutlich genug. Das Singen,
Tanzen und Spielen macht die beiden jungen Helden intelligent und
selbstbewusst und damit lebenstüchtig. Humperdinck hat seine
sublimsten kompositorischen Eingebungen darauf verwendet, die ästhetische
Form der Realitätsverarbeitung durch seine Protagonisten zu
illuminieren. Diesen Momenten schenken Schuller und Choreografin
Jacqueline Davenport zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit. Fast völlig
abhanden gekommen ist der Aspekt der Natur- und Weltgeborgenheit.
Die religiös melierte Spätromantik Humperdincks löst
Schuller in bisweilen ernüchternde Bilder auf: Zu den friedlichen,
zärtlich-sanften Klängen des Abendsegens trippeln zwergartige,
wasserköpfige Oberkellner um die schlafenden Kinder herum,
bereit ihre Bestellungen entgegenzunehmen und Menüs zu servieren.
Eine wohl kalkulierte Denunziation der zauberhaften Musik? Die
Natur fällt als echter Dialogpartner der Kinder aus. Beim
Taumännchen mit seinem Sprühkanister auf dem Rücken
denkt man unwillkürlich an einen Schädlingsbekämpfungseinsatz.
Die angestrebte Anpassung an eine zeitgemäße, für
heutige Kinderaugen lesbare Bühnenoptik wird mit einer erklecklichen
Portion Poesielosigkeit erkauft. Ob sich darin vielleicht doch
ein Altern des gerne für unsterblich ausgegebenen Werkes ankündigt?
Oder sollte man eher von dem Altern einer naturentfremdeten Zivilisation
vor der Jugendfrische der Humperdinck‘schen Schöpfung
sprechen?Wie schon bei Ligetis „Le Grand Macabre“ springt
Bre-mens Kapellmeister Daniel Montané für die Schwächen
der Szene in die Bresche. Schon die Ouvertüre geht ihm flüssig
und leicht von der Hand. Montanés Interpretation der Orchesterintermezzi
sprüht vor Lebendigkeit und Feuer, scheut das Schwelgerische
nicht und bewahrt sich auch noch in der wild-fantastischen Episode
des Hexenritts ein Lächeln. Es ist nicht zu überhören,
dass mit Montané abermals ein künftiger Spitzendirigent
für das Theater Bremen verpflichtet werden konnte. Meisterlich
gelingt die klangliche Balance von Gesang und Orchester. Bis in
die kleinen Partien hinein verkörpern die Sänger Idealbesetzungen.
Mit klarer, großer, jugendlich leuchtender Sopranstimme öffnet
Nadine Lehner ihre Interpretation der Gretel, ohne ein unnatürliches
Kindertimbre aufsetzen zu müssen. Chordirektor Tarmo Vaask
hat den professionell agierenden Kinderchor zu bemerkenswerter
Fülle und Strahlkraft und einem lupenreinen stimmlichen Gleichmaß geführt.
Der einzige Schönheitsfehler einer sonst tadellosen musikalischen
Einstudierung bleibt die nicht immer vorbildliche Wortdeutlichkeit.
Christian Tepe
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