|

Als die Gewerkschaft der Lokführer im Frühsommer 2007 einen eigenständigen Tarifvertrag, bessere Arbeitsbedingungen
und mehr Lohn forderte, zur Untermauerung ihrer Forderungen sogar
zu Arbeitskämpfen aufrief, war das Echo zweigeteilt: Während
die unmittelbar von den Streiks Betroffenen, die Fahrgäste
der Deutschen Bahn, ein wenig Missmut, aber viel Verständnis
zeigten, erhob sich im Lager der Arbeitgeberverbände und der
Großgewerkschaften ein Geschrei, das desto lauter war, je
dürftiger die Argumentation.
Der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände rief
sofort nach dem Gesetzgeber, weil er die Schimäre der „betrieblichen
Tarifeinheit“ in Gefahr sah. Diese landläufig „Ein
Betrieb – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag“ geheißene
Tarifeinheit setzt aber voraus, dass es innerhalb des einen Vertrages
auch differenzierende Tarifgerechtigkeit gibt, dass also jede im
Betrieb vorhandene große oder kleine Berufsgruppe den an
sie gestellten Anforderungen entsprechend und gemäß den
von ihr erbrachten Leistungen eingruppiert ist. Für einen
Verwaltungsangestellten im Rundfunk müssen die Arbeits- und
Entgeltbedingungen anders geregelt sein als für die Produktionsmitarbeiter.
Die ARD- und ZDF-Tarifverträge sind so gestrickt – und
soweit sie es nicht waren, hatten sie seit den 70er-Jahren des
vorigen Jahrhunderts die Auslagerung der Produktion an privatwirtschaftliche
Tochterfirmen zur Folge.
Die Lokomotivführer konnten zur Berechtigung ihrer Forderungen
darauf hinweisen, dass die beiden sie bis dahin vertretenden Großgewerkschaften,
die Gewerkschaft Transnet im DGB und die Verkehrsgewerkschaft GDBA
im Beamtenbund, entweder nicht willens oder nicht in der Lage waren,
die berufsspezifischen Interessen des Fahrpersonals angemessen
tarifvertraglich umzusetzen. Mit dieser Begründung hatten
vor ihnen schon Viele ihr Eigenständigkeitsstreben durchgesetzt:
die Orchestermusiker zum Beispiel, als sie sich von der ÖTV
trennten und die DOV gründeten, die Ärzte des Marburger
Bundes oder die Flugkapitäne, als sie die Dienstleistungsgewerkschaft
ver.di verließen. Auch der Deutsche Journalistenverband und
die VdO sind so entstanden. Die Lokführer konnten nachweisen,
dass ihre tariflichen Arbeitsbedingungen weit unter dem Durchschnitt
ihrer Kollegen in den vergleichbaren europäischen Nachbarländern
liegen: Der Lokführer des TGV zum Beispiel findet gut doppelt
so viel in seiner Lohntüte wie der Führer des ICE. Von
schlecht bezahlten und arbeitszeitlich überstrapazierten Lokführern
gefahren zu werden, ist für die daher auch mit der GdL sympathisierenden
Bahnreisenden kein beruhigendes Gefühl. Den
Grundsatz der „Tarifeinheit“ kennt weder das Grundgesetz,
das „jedermann und für alle Berufe“ das Recht
gewährleistet, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits-
und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“, noch
lässt es sich aus dem vom Bundesarbeitsgericht entwickelten
Richterrecht ableiten. Das bezog sich nur darauf, was zu geschehen
habe, wenn ein und derselbe Sachverhalt in so genannter Tarifkonkurrenz
unterschiedlich geregelt ist. Auf der Hand liegt es, dass die Großgewerkschaften
sich aus Gründen der Gewerkschafts-,
nicht etwa der Tarifkonkurrenz schwer tun, für die Restbestände
des bei ihnen organisierten Fahrpersonals Anschlusstarifverträge
an den GdL-Vertrag zu vereinbaren – doch so einfach, so arbeitnehmersolidarisch
wäre das Problem zu lösen gewesen.
Zwei Probleme aber bleiben. Das der Großgewerkschaften ist
es, dass sie von industriegewerkschaftlichen oder großbetrieblichen
Kadern majorisiert werden und Binnenpluralismus sowie die Wahrnehmung
von Minderheiteninteressen nur schwer praktizieren können.
Das der kleinen, berufsverbandlich strukturierten ist es, dass
sie, weil sie meist Beschäftigte in durchsetzungsstarken Schlüsselpositionen
vertreten, der Gefahr des die Verhältnismäßigkeit
sprengenden Gruppenegoismus ausgesetzt sind.
Beide Probleme haben ihre Wurzeln in der industriegewerkschaftlich
geprägten Vergangenheit der Gewerkschaftsbewegung und in der
Pervertierung des Gewerkschaftsgedankens in der Nazi- und in der
DDR-Zeit. Die Ideologie der monolithischen, daher auch politisch
wirkungs- und gegenmächtigen Organisationsstruktur lässt
das Vertrauen in eine den Verbandspluralismus überwölbende
Solidarität gar nicht erst aufkommen. Dabei zeigen die Beispiele
der sich verselbständigenden Kleingewerkschaften, dass das
Organisationsinteresse der Beschäftigten eher aus ihren Berufen
erwächst als aus ihren Betriebszugehörigkeiten. Vielleicht
liegt darin auch ein Grund für den von den Großgewerkschaften
beklagten Mitgliederschwund?
Die durch den Aufstand der Lokführer ausgelöste gewerkschaftspolitische
Debatte ist jedenfalls zu begrüßen. Ihr Stefan Meuschel
|