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Editorial
Hätte es bei irgendeiner politischen oder vereinsrechtlichen
Wahl eine Wahlbeteiligung von 0,025 Prozent gegeben, und hätten
daraufhin 0,002 Prozent der abgegebenen Stimmen zu Erlangung eines
Mandates ausgereicht, wäre das Geschrei groß gewesen.
Fast ganz ohne Geschrei wurde das Ergebnis der Wahlen der „Internet
Corporation for Assigned Names and Numbers“ (ICANN) zur Kenntnis
genommen, obschon es ebenso grotesk ist. Bei weltweit 300 Millionen
wahlberechtigten Netznutzern lag die Wahlbeteiligung bei besagten
0,025 Prozent und knapp sechstausend der insgesamt 76.000 abgegebenen
Stimmen reichten bei den „größten Online-Wahlen
der Geschichte“ aus, um Andy Müller-Maghun zum „Europa-Direktor“
der ICANN zu machen.
Der Vorgang könnte als spaßgesellschaftlicher Beitrag
im Guiness-Buch der Negativ-Rekorde abgelegt werden, ließe
er nicht böse Folgen erwarten. Andy Müller-Maguhn ist
kein virtuelles Cyberspace-Wesen, sondern der ehemalige Sprecher
des Hamburger Chaos Computer Clubs. Der zum Gärtner gemachte
Hacker-Bock wird künftig weltweit über die Vergabe von
Webadressen-Endungen mitbefinden und ein gewichtiges Wort bei Entscheidungen
haben, an welchem Punkt die bereits erreichte Unmenschlichkeit der
Netzfreiheit endet. Freiheit für Faschisten, Kinderschänder
und Börsengauner im virtuellen „Parallel-Universum“
des Netzes?
Unser besonderes Interesse gilt denjenigen Passagen seiner am 17.
Oktober 2000 in der FAZ veröffentlichten „Regierungserklärung“,
in denen er – in Fortentwicklung der These des französischen
Sozialisten Proudhon (1809-1865), Eigentum sei Diebstahl –
die Rechtssysteme von Copyright und Urheberschaft attackiert. In
seinem herrschaftsfreien Raum, führt Müller-Maguhn aus,
werde „Geschenk-Kultur“ herrschen. „Was die Juristen
‚Geistiges Eigentum‘ nennen, ist nichts weiter als ein
Diebstahl am öffentlichen Raum. Und da wir – die Netzbenutzer
– jetzt keine Lust haben, uns den öffentlichen Raum durch
diese Diebe kaputt machen zu lassen, mussten wir ein wenig provokativ
werden.“ Blöde „Krawattis“ seien es, die da
bürgerlich-altmodisch das Klonen von Dateien schlicht Raubkopieren
nennen. Nicht der Beraubte ist das Opfer, sondern der als solcher
verfolgte Räuber, weil ihm im öffentlichen Raum des Netzes
netzrechtswidrig das vorenthalten wird, was doch allen gehört.
Diese Ideologie vom „kollektiven Netzeigentum“, die die
Vernetzung nicht als neues Kommunikationsmittel in dieser, sondern
als öffentlichen Raum in einer anderen, „parallelen“
Welt betrachtet, in der zivile Regeln aufgehoben sind, ist alles
andere als etwa von rührender Lächerlichkeit. Sie ist
ernst zu nehmen, leistet sie doch – und sei es subkutan –
den vielerorts ausmachbaren Tendenzen Vorschub, die Rechte am geistigen
Eigentum und die Wertigkeiten künstlerischer Leistungen schrittweise
zu demontieren.
Alle Inhaber von Rechten an geistigem Eigentum, seien es Autoren
oder Künstler,
seien es Verleger oder Verleiher, sollten den ihnen von „einem
der wichtigsten Männer des Internet“ (so die FAZ) „im
Namen der Göttin des Streits“ (so Müller-Maguhn)
hingeworfenen Fehdehandschuh beherzt aufnehmen und sich nicht von
dem obskuren Internet-Wahlverfahren und -ergebnis einlullen lassen.
Andernfalls bildet sich Müller-Maguhn noch ein, er sei eine
Art Schinderhannes oder Robin Hood des Internets.
Stefan
Meuschel
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