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Eine Jugend für die Musik?
Die Thomaner von der Bach-Zeit bis ins 19. Jahrhundert ·
Von Stefan Altner
In den Leipziger „Nützlichen Nachrichten“ von 1750
lesen wir: „Den 28. Juli nach Mittag um acht Uhr ging aus der
Zeitlichkeit Herr Johann Sebastian Bach. Seiner Königlichen
Majestät in Polen und Kurfürstlichen Durchlaucht zu Sachsen
hochbestallter Hofcompositeur, hochfürstlich Anhaltischer,
Cöthischer und hochfürstlich Sächsisch-Weißenfelsischer
wirklicher Kapellmeister, wie auch Direktor der Musik und Kantor
an der Thomasschule zu Leipzig. Eine übel ausgeschlagene Augenkur
raubte diesen Mann der Welt, welcher sich durch seine ungemeine
Kunst in der Musik einen unsterblichen Ruhm erworben hat und welcher
solche Söhne hinterlässt, die gleichergestalt in der Musik
berühmt sind.“ Bach „der Thomaskantor“ –
diesen Beinamen hat er erst im 19. Jahrhundert im Zuge einer Vereinnahmung
erhalten, die mystifizierend darin gipfelte, ihn als fünften
Evangelisten zu bezeichnen. Bachs niedere Alltagsposition eines
Lehrers an der Thomasschule machte es zu seiner Zeit notwendig,
sich darüber hinaus zu definieren.
Vielseitiger Musiker
Neben den Pflichten als Kantor, dem Schreiben der Kirchen- und
Festmusiken hatte Bach als Vater Sorge dafür zu tragen, seine
Söhne, die in Leipzig zur Schule gingen (Wilhelm Friedemann,
Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friederich), musikalisch
zu unterrichten. Viele wissen, dass Bach ein glänzender Tasten-Virtuose
war, nur wenige, dass er ein herausragender Geiger war. Carl Philipp
Emanuel berichtet dem Göttinger Musikhistoriker Johann Nikolaus
Forkel 1775, am liebsten spiele der Vater die Bratsche. Und: „In
seiner Jugend bis zum ziemlich herannahenden Alter spielte er die
Violine rein und durchdringend und hielt dadurch das Orchester in
einer größeren Ordnung als er mit dem Flügel (Cembalo)
hätte ausrichten können.“ Eine bildhafte Beschreibung
des Musikers Bach gibt sein Freund Johannes Matthias Gesner, Rektor
der Thomasschule von 1730 bis 1734: „Wenn Du diesen sähest,
wie er (...) nicht etwa eine Stimme nur singt (...), sondern auf
alle zugleich gerichtet ist, und von 30 oder 40 Musizierenden den
einen durch einen Wink, den anderen durch Aufstampfen des Fußes,
den dritten mit drohendem Finger wieder in Rhythmus und Takt bringt...“
Wie heute musste ein Präfekt dem Thomaskantor bei der Probenarbeit
helfen, den Orchesterpart am Flügel spielen. Der letzte Schüler
Bachs, Johann Christian Kittel, berichtet: „Wenn Seb. Bach
eine Kirchenmusik aufführte, so musste allemal einer von seinen
fähigsten Schülern auf dem Flügel accompagnieren.
(...) Man musste sich immer darauf gefasst halten, dass sich oft
plötzlich Bachs Hände und Finger unter die Hände
und Finger des Spielers mischten.“
Thomaskantor Johann Adam Hiller beschreibt 1793 die musikalischen
Aufgaben der Thomaner, die nicht nur das Singen einschlossen: „Unter
meinen 56 jungen Leuten zwischen 13 und 21 darf höchstens einer
amusis sein; es befinden sich darunter mehrere Talente für
das Klavier- und Orgelspiel, der eine der Schüler kann Pauke,
ein anderer Baßposaune spielen; auch sind fünf gute Violinspieler
da und weitere fünf bis sechs eifern ihnen nach. (...) Die
Violinen sind wenigstens mit 30 Spielern besetzt, die Bratschen
dreifach, die Bässe mit zwei Contreviolones, zwei Violoncellen,
zwei Fagotten. Dazu kommen zwei Flöten und zwei Waldhörner,
so daß sich das Personale der Instrumente wenigstens auf 23
beläuft und für den Gesang der Chöre noch immer 32
übrigbleiben.“
Fünfzig Jahre später, 1844, hat Thomaskantor Moritz
Hauptmann Nöte, die von Bach vorgesehenen Instrumente zu besetzen,
und ersetzte sie durch die im romantischen Orchester üblichen.
„Wir haben die Passion nach dem Johannes gegeben: die ist doch
auch sehr respectabel: der erste Chor, die Judenchöre, zum
Beispiel‚ ‘Wäre dieser nicht ein Übeltäter‘
das ‚Kreuzige‘, dann auch mehrere Arien – einige
mußte ich weglassen; die Baßarie mit der Laute macht
sich sehr schön, die Lautenfigur für die Violen und Clarinette
(tiefe Lage), die Viole d’amour in den Geigen – die Altarien
sang Susette sehr schön; die zweite die blos mit Viola da Gamba
und Baß ist, ließ ich auf dem corno inglese blasen,
den bezifferten Baß für Violoncello und Violen [an Stelle
der Orgel oder des Cembalos; Instrumente, die Hauptmann ablehnte];
es klang sehr schön und hat sehr gefallen, auch die Baßarie
mit dem ‚Wohin‘ des Chores. Es ging alles ganz glatt weg.“
Die Musik Bachs wurde mit der Zeit zu einem Steinbruch, man nahm
sich daraus, was passte, und führte sie nur bruchstückhaft
auf. Heute erscheint uns dieser Instrumentenaustausch abstrus.
Unzufriedene Kantoren
Dass die sattsam bekannte Unzufriedenheit des Thomaskantors Bach
mit den Leistungen der Thomaner auch bei Hauptmann anzutreffen war,
zeigt seine Äußerung von 1848. Hauptmann hätte den
Berliner Domchor wohl „lieber als den Thomanerchor, dort gibt
es die ausgesuchtesten Stimmen, immer frische für Sopran und
Alt – hier haben wir auch die verlornen durch alle vier Register
durchzuschleppen, vom 12. bis ins 20. Jahr.“
Präfektenstreit
Der Kompetenzstreit zwischen Rektor und Kantor – der Rektor
wollte die Schulausbildung, der Kantor seine Musik so adäquat
wie möglich ausgeführt wissen – ist im berühmten
„Präfektenstreit“ zwischen Johann August Ernesti
und Johann Sebastian Bach nachvollziehbar. Der Präfekt Krauß
bestrafte einige Choristen mit Schlägen und hatte härter
als gewollt zugeschlagen. Im Ergebnis einer Beschwerde eines der
Beteiligten ordnete der Rektor eine öffentlich zu vollziehende
Prügelstrafe für den Präfekten an, der sich dem Vollzug
der ehrenrührigen Bestrafung durch Flucht entzog. Gegen Bachs
Willen besetzte der Rektor die Position mit einem Protegé,
den Bach mit dem Vorwurf musikalischer Untüchtigkeit vergeblich
wieder absetzen lassen wollte. Die Schulhierarchie, die dem Rektor
mehr Machtbefugnis einräumte, gab hier den Ausschlag zu Ungunsten
des Kantors. Bach bewohnte gemeinsam mit dem Rektor und den 54 beziehungsweise
56 Alumnen sowie den Wocheninspektoren das Thomasschulhaus, das
zu Bachs Amtszeit, zwischen 1730 und 1732, erweitert wurde. Die
hygienischen Bedingungen müssen zum Teil grausig gewesen sein.
Von Rattenplagen und sonstigem Ungeziefer wird noch bis in das 19.
Jahrhundert berichtet, so 1862: „Wirthschaftliches. Die Zahl
der Ratten und Mäuse wurde in dieser Woche vermindert so weit,
daß der Inspector wenigstens ruhig schlafen kann, durch Aussetzen
von vergiftden Fleischstückchen während der Nacht.“
Bereits im Zuge der Errichtung eines Getränkekellers 1702 hieß
es: „Weil nun Durst auszustehen (...) und unerträglich
war, sich auch viele arme Kinder darunter befanden, welche keinen
Zugang von Hause hatten, so musten solche offtmahls über den
in denen Kammern stehenden Wasser-Krug gehen, und mit denen Ratten
(welches Ungezifer damahls in entsetzlicher Menge da anzutreffen
war) einerley Tranck trincken: woher es denn kam, daß offt
viel und grosse Kranckheiten dadurch caussiret wurden.“
Keine Engel
Dass Thomaner nicht nur Engel waren, findet sich häufig in
den städtischen Protokollbüchern der Schule, so 1723:
Ihnen wurde „ihr ungebührlicher Lebenswandel und übles
Bezeigen ernstlich vorgehalten, insonderheit, daß sie sich
unterstanden, auf ihre Praeceptores [Lehrer] Pasquille [Schmähschriften]
zu machen und dadurch gar gröblich gegen das vierte Gebot zu
versündigen.“ Aus einem Inspektorenprotokoll von 1862
erfahren wir: „Der Primaner Kothe gab einem Quintaner Schmidt
wegen einer geringfügigen Veranlassung am 18/5. einige Ohrfeigen,
wesswegen sich letzterer bei mir beklagte, derselbe Kothe (...)
erschien am Abend desselben Tages des Abends beim Gebet in einem
weissen Rocke, u. zeigte eine so schlechte Haltung beim Gebete,
daß er sich auch desswegen eine Rüge zuzog. (...) Den
23. Mai. Abends 8 Uhr brannte der Quartaner auf einem Blocke vor
dem Fenster der 5. Etage ein dem Schiesspulver ähnliche Mischung
aus Kohle, Schwefel u. Salpeter ab, sobald ich, am Fenster stehend,
den Rauch gewahrte, eilte ich hinauf u. traf Gehre u. einige andere
Alumnen um ihn herum stehend, er schien sich seines unvorsichtigen
Gebahrens gar nicht bewusst. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen,
daß ich seinen Pulvervorrath confiscirte.“
Über den Eintritt in den Chor im 18. Jahrhundert erfahren wir
von Friedrich Rochlitz 1785: „Doles [Thomaskantor J.F. Doles]
bedurfte eben eines guten Sopranisten, der ich war: da drang er
auf meine Annahme, und der gelehrte, rauhe Rector, Johann Friedrich
Fischer, sonst in Allem sein erklärter Gegner, gab diesmal
nach, weniger ihm, als jenen Umständen. Ich aber – der
noch nicht dreizehnjährige, von Natur und mehr noch von immerwährendem
Stubenleben keineswegs robuste, an sorgsame, sittige, liebreiche
Behandlung gewöhnte Knabe – bekam auf einem Institute,
wo damals noch der crasseste Pennalismus [Drangsalierung von Neuankömmlingen]
herrschte, wo die Untern den Obern ausser den Schulstunden wahrhaft
als Sclaven und zu den niedrigsten Diensten, zu ganz unbedingtem
Gehorsam, willkürlichen Demüthigungen und selbst Züchtigungen
hingegeben waren: ich bekam das Schwierige und Lastende jenes Ungewöhnlichen
und Vorzeitigen meiner Aufnahme schmerzlich genug zu empfinden.“
Starke Belastungen
Rektor Rost beschreibt 1810 den Kräfteverschleiß der
Thomaner: „Nicht wenige treffliche Schüler sind durch
allzu große Anstrengung (...) an Schwindsucht oder anderen
Krankheiten elend zugrundegegangen (...), durch fortwährende
Beschäftigung mit der Musik von wissenschaftlichen Studien
abgehalten (...). Wenn junge Leute, meistenteils noch Knaben, zuweilen
in der strengsten Winterkälte, ohne etwas im Leibe und nicht
viel auf dem Leibe zu haben, oft an ein und demselben Tage in aller
Frühe auf den entfernten Begräbnisplatz laufen und an
den Gräbern singen, dann zu dem Frühgottesdienst in die
kalten Stadtkirchen zurückeilen, von da in die Universitätskirche,
schließlich zum Mittagsgottesdienste, dann zur Vesper sich
einfinden, nach deren Beendigung zur Kurrende und aufs neue zu den
Leichen und endlich wieder ins Konzert bis auf den späten Abend
gehen müssen –, so frage ich, ob ihnen das nicht schaden
soll. (...) Die Eltern übergeben ihre Kinder nicht unserer
Willkür, sondern unserer väterlichen und vernünftigen
Fürsorge. (...) Unsere Schüler werden dereinst unsere
Richter sein.“
Den Thomanern wurden zahlreiche Aufgaben als Dienstleister im
Stadtleben übertragen, um den Gelderwerb für die Thomasschule
zu sichern: so sangen sie beispielsweise zu Begräbnissen. In
der Schulordnung von 1723 steht: „Die Schüler haben in
ehrbarem schwarzem Rock und Mantel zu gehen. Bei Leichenbegängnissen
ist diese Tracht unerläßlich. (...) und beim Gesang eine
richtige ‚Consonanz beobachten‘.“ Damals trugen die
Alumnen schwarze Mäntel, eine Perücke, Dreispitz und eine
schwarze Halsbinde. Die Perücke wurde 1793 verboten, die Mäntel
durften nur noch im Dienst getragen werden. Erst 1837 fielen die
dreihundert Jahre lang üblich gewesenen Singumgänge –
die Kurrende – und das Büchsentragen weg. Der Ausfall
an Einkünften sollte durch zwei jährliche Konzerte wettgemacht
werden. Zehn Jahre später, am 1. März 1847, wurden die
Mäntel feierlich zu Grabe getragen und verbrannt; die Asche
ist in einer Flasche sorgfältig gesammelt und noch viele Jahre
lang als kostbare Reliquie aufbewahrt worden. Kaum war das erreicht,
erhoben die Alumnen die neue Forderung, auch den Frack und den hohen
Hut abzuschaffen. Sie träumten von hellfarbigen Röcken
und bunten Mützen. Das Singen bei Beerdigungen und Hochzeiten
blieb noch bis 1876 bestehen. Ein Amt, das stets ein Thomaner innehatte,
das Amt des Leichenfamulus, wurde nicht mehr benötigt und abgeschafft.
Damit soll die kleine Zeitreise beendet sein. Wenn sich das Vorgestellte
wie eine „Chronique scandaleuse“ liest, darf nicht vergessen
werden, dass die Thomaner und ihre Kantoren trotz aller Widrigkeiten
eine in der Musik begründete Lebensgemeinschaft führten,
die sie durch den Alltag trug und von der viel Großartiges
und Bewundernswertes ausging. Mehr als ein Anriss konnte nicht gegeben
werden, eher eine Anregung, sich mit der sozialen, historischen
Umwelt, in der Musik entsteht, näher zu beschäftigen.
Aus den „Leipziger Blättern“ (Nr. 36)
Stefan
Altner
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