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Berichte
Dazwischen aber ist die Musik
Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ an der Deutschen Oper Berlin
„Ich freue mich auf meinen Tod“, „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“: Junge Künstler singen das, Anfang, Mitte 20 – mit Hingabe erarbeitet für den Bach-Wettbewerb in Leipzig. Die frischen Stimmen machen Freude, aber es bleibt ein Unbehagen. Was soll diese Todesverherrlichung von Leuten, die so jung sind?
Gebannt hören die Kinder dem Evangelisten zu. Foto: Marcus Lieberenz/bildbühne.de
Ein tiefes Befremden über den ausdrücklichen Todeskult des Werkes liegt auch in Benedikt von Peters szenisch-theatraler Darstellung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach in der Deutschen Oper Berlin. Es ist ein disparates Gemisch von Eindrücken, das diese Aufführung begleitet, mit dem man nachhause geht.
Die Handlung wird von Kindern gespielt. Am Höhepunkt jeder Szene erstarren sie zu lebenden Bildern, barocken Gemälden ähnlich. Unbefangenheit mischt sich in dieser Darstellung mit kindlicher Unerbittlichkeit. Eine Krippenspiel-Niedlichkeit stellt sich in keinem Moment ein. Kostümbildnerin Lene Schwind hat die Kinder in protestantisch steife blassbunte Kleider und Anzüge gesteckt. Auch durch ihre Körpersprache und Bewegungen wirken sie seltsam blass, unfroh, antriebslos. Aber sie werden auf Trab gebracht. Der Evangelist ist ihr autoritärer Lehrer, Antreiber, ideologischer Einpeitscher. Er erzählt ihnen eine Geschichte, bei der ihnen Hören und Sehen vergeht. Aber er erzählt sie so engagiert und hingebungsvoll, dass die Kinder seine Wahrhaftigkeit spüren, ihm vertrauen und ihm folgen, zunächst. Der Regisseur hat die spannungsgeladen ambivalente Beziehung sehr nachvollziehbar herausgearbeitet. Als Zuschauer-Zuhörerin wechselt man unablässig die Seiten.
Plötzlich ist es einem der größeren Mädchen zu viel. Ihre Empörung herausschreiend hat sie genug von Opfertod, Qual, Grausamkeit.
Etwa 100 Jahre nach der gottesdienstlichen Uraufführung am Karfreitag 1727 hat Felix Mendelssohn Bartholdy am 11. März 1829 die weitestgehend vergessene Matthäuspassion mit der Berliner Singakademie erneut aufgeführt. Seither blieb das Werk, als Konzertmusik außerhalb der liturgischen Praxis, im Bewusstsein der Menschen. Ob bewusst oder unterschwellig hat die von Bach so einzigartig glorifizierte Todes-Sehnsucht des Matthäus-Evangeliums, genauer die Erlösungssehnsucht durch Tod und Martyrium, eine Todesverliebtheit in viele Bereiche der Kunst des 19. Jahrhunderts hineingetrieben. Die späten Folgen dieser Ideologie sind bekannt, auch dies hat Benedikt von Peter zur protestierenden Figur des Mädchens veranlasst. Zum Schluss hat sie den Großteil der Kinder zu sich gezogen. Deren biblische Sorgen sind jetzt andere, apokalyptische: Das Meer wird zu Blut werden, die Geschöpfe und Menschen werden sterben.
Man ist nun ganz auf der Seite der Kinder. Aber dazwischen ist die Musik. In den großen Raum der Deutschen Oper ist der geistige wie der praktische Klangraum der Partitur gleichsam hineingebaut worden. Es gibt die Bibeltextvertonungen der Rezitative und Turba-Chöre, es gibt die individuellen Reflexionen der Solo-Arien, die der Gemeinde in den Chorälen: ein kollektives Mitgestalten. Auf beiden Seiten der Vorbühne je ein Orchester, zwei weitere im zweiten Rang und oben auf der mit Sitzreihen bestückten Hauptbühne. Die Chöre singen von den Seiten des ersten Ranges. Im Publikum verteilt, werden die Choräle von beteiligten Laienchören mitgesungen. Einen Opernchor stellt Bachs Musik vor ungewohnte Aufgaben. Puristen könnten gegen die Klanggestalt Einwände erheben, es klingt anders als die kleinen schlanken Besetzungen professioneller Alte-Musik-Ensembles. Doch die opernhafte Wucht der Chöre entwickelt unmittelbar mitreißende Wirkungen. Das Opernhafte dieser Produktion tritt vor allem in den dramatischen Passagen von Jesus‘ Verurteilung und Verhör hervor. Das Opernorchester, verstärkt durch zwei Continuo-Ensembles, nähert sich der historisch informierten Aufführungspraxis stärker an, bleibt aber satt im Klang. Die konzertierenden Instrumente musizieren einfach hinreißend. Dirigent Alessandro De Marchi hat Erfahrung mit solchen raumumfassenden Ensembles. Er hält alle Gruppen mit großer Ausdrucksstärke zusammen. Die Tempi sind rasch, wirken dennoch kaum je gehetzt. Durch intensive Phrasierung bekommt jeder Satz eine nur ihm eigene Struktur.
Eindrucksvolle Szene am Kreuz. Foto: Marcus Lieberenz/bildbühne.de
Die Solisten, schwarz gekleidet wie Chor und Orchester, agieren außerhalb der Spielfläche, greifen manchmal auch ein. Joshua Ellicott als Evangelist zerreißt sich förmlich zwischen der extremen Intensität der Texterzählung und dem zunehmenden Unverständnis gegenüber den immer mehr aufbegehrenden Kindern. Eine grandiose Leistung. Die warme Stimme und Ausstrahlung Padraic Rowans als Jesus bildet den schlichtenden und beruhigenden Kontrast dazu. Großartig auch die Altistin Annika Schlicht, die eine Vielzahl von Farben und Facetten des Trauerns und Büßens aufzubieten hat. Die Sopranistin Siobhan Stagg und Tenor Kieran Carrel können eher die innige Süße des Trostes heraussingen.
Noch ganz auf Seiten der protestierenden Kinder kommt der Schluss des Werkes auf das Publikum zu: „Mache dich, mein Herze rein“, zum Weinen schön gesungen von Joel Allison, „Nun ist der Herr zur Ruh gebracht“, „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Diese Sätze sind so unglaublich innig, dass man doch an den letztendlichen Sinn von Tod und Leiden glauben möchte. Aber die Kinder fragen nach Verantwortung und Zukunft.
Ein großer Abend, der nachwirkt.
Irene Constantin
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