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Kulturpolitik

… unter bestimmten Bedingungen …

Kultur-Wiedereröffnungsstrategien im Zeichen von Lüftung und Ethik

Die Forderungen aus der Veranstaltungsbranche Kultur werden immer lauter: Theater, Opernhäuser, Konzertsäle, Clubs, Messen sollen wieder mit Publikumsverkehr zugelassen werden, besser früher als später. Allenthalben wird betont: In diesen Versammlungsstätten sei man ziemlich sicher, es werde zu große Vorsicht praktiziert. Andere Situationen seien viel bedenklicher, würden aber auch zugelassen. Ins Feld werden dann Experimente, Versuche und Simulationen geführt, die sich in den letzten Monaten mit Übertragungswegen von Viruspartikeln auseinandersetzen. Stimme, Instrumente, Publikum werden auf Verbreitung von Aerosolen und Tröpfchen abgeklopft, Handläufe an Treppen auf Schmierinfektionskapazitäten. Die Geschichte der Corona-Pandemie hat die Wissenschaft beflügelt, das Problem indes nicht aus der Welt geschafft. In den Verteidigungslinien gegen die Pandemie stehen Bestuhlung, Belüftung, Intensiv-Kontaktreduktion, Testung, Impfung im Kulturbetrieb auf dem Plan. Bei den Intensivmedizinern geht es um Beatmung, künstliches Koma und Rehabilitation und Folgen wie Long-Covid.

Eine kleine Chronik

Die Gefährlichkeit, an dem SARS-CoV-2-Virus ernsthaft und/oder nachhaltig zu erkranken, ist seit den ersten spektakulären Fällen von Erkrankungsausbrüchen in Chören unbestritten. Standen am Anfang Untersuchungen im Vordergrund, die darstellen sollten, wie gefährlich Instrumente oder Stimmen sind, rückte im Spätsommer 2020 das Publikum mehr und mehr in den Fokus.

Erstes Aufsehen erregte die Pilotstudie „Probeweiser Betrieb der Bayerischen Staatsoper mit erhöhter Zuschauerzahl: Evaluation des Testbetriebes mit 500 Besuchern von 01.09. bis 25.10.2020“. Kommuniziert wurde nach Abschluss der Pilot-Studie vorrangig, dass es zu keinen Ansteckungen im Publikum gekommen und damit ein Besuch annähernd gefahrlos sei. Diese Übertragung von Ergebnissen bei zirka 30 Prozent der Befragten auf alle Besucherinnen und Besucher ist jedoch schlicht nicht möglich, wenn Daten von weiteren 70 Prozent des Publikums fehlen.

Allein schon aus methodischen Gründen sind Umfragen, wie sie an der Staatsoper München durchgeführt wurden, nur eingeschränkt hilfreich, weil sie für bestimmte Konstellationen im Pandemiegeschehen stehen. Das wissen selbst die Autoren der Studien und auch manche Verantwortliche, wenn sie in Nebensätzen einfügen, das alles gelte „unter bestimmten Bedingungen“ (so der Intendant der Bayerischen Staatsoper Nikolaus Bachler in einem Statement für den NDR – die 7-Tages-Inzidenz lag damals in München deutlich unter 35!). Da die Lage der Pandemie enorm dynamisch ist, reichen kurze und unvollständige Erhebungen selten über die konkrete Zeit, in der sie gemacht wurden, hinaus. Im zweiten Teil der Untersuchungen an der Staatsoper München stand das Lüftungssystem des Gebäudes. Ein Thema, das zahlreiche weitere Untersuchungen auf den Plan gerufen hat.

Versuche, Simulationen, Experimente

Anders stellt sich das bei experimentellen Untersuchungen zu Strömungsverhältnissen und Luftbewegungen in konkreten Räumen dar. Dafür stehen beispielsweise die Experimente am Konzerthaus Dortmund, die Wolfgang Schade, Abteilungsleiter für faseroptische Sensorsysteme am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut Goslar, zusammen mit der Firma ParteQ, durchgeführt hat und die mindestens durch das Konzerthaus Dortmund teilfinanziert wurden. Das Ergebnis: „Konzerthaus Dortmund kann bei vorhandenem Lüftungskonzept kein Superspreading-Event provozieren.“ Das Bannen eines Superspreading-Events: So wurden insbesondere die Verhältnisse und Auswirkungen von Chorereignissen oder beispielsweise Ereignisse in Skisportorten wie Ischgl beschrieben. Ausgeschlossen wird schlichtweg ein Worstcase-Szenario. Über den Rest der physikalischen Experimente kann man sich einig sein, solange man die Grundannahmen der Untersuchung teilt und die spezielle Situation des untersuchten Hauses. Nachfragen in dieser Richtung wurden leider bis heute nicht beantwortet.

Ähnliche Untersuchungen liefen letztes Jahr anhand von Computersimulationen an der Philharmonie Paris, die die Firma Dassault Systèmes durchgeführt hat. Das Ergebnis dort weicht deutlich von dem in Dortmund ab: „Die Simulationen zeigten, dass das Risiko der Virenausbreitung sinkt, wenn Zuschauer passende Masken tragen und die Luftströmung an jedem Sitzplatz um 50 Prozent gesenkt wird“, liest man im Bericht der Firma. Das Ergebnis in Dortmund dagegen: „Umschalten der Lüftung von 30 auf 100 Prozent Lüftungsleistung führt zu Reduzierung der Emissionswerte.“ Auch Teilergebnisse machen eher misstrauisch. Die Firma ParteQ hat die Dortmunder Versuche in der Fruchthalle Kaiserslautern wiederholt, laut Zeitungsbericht mit dem Ergebnis: „Zwar konnten die Forscher teilweise auch noch im Abstand von zehn Metern zum Dummy Aerosole messen, allerdings nur in ganz geringer Konzentration.“ Beruhigend?

Ebenso unerschöpfend ist ein Modell, das an der TU Berlin von Martin Kriegel und Anne Hartmann mit dem Titel: „Covid-19 Ansteckung über Aerosolpartikel – vergleichende Bewertung von Innenräumen hinsichtlich des situationsbedingten R-Wertes“ aufgestellt worden ist. Berechnet wurde, wie hoch die Ansteckungsgefahr in Innenräumen, abhängig von Tätigkeit, Dauer, Lüftung und Einsatz von Masken ist – unter bestimmten Vorannahmen. Basierend auf einem Modell zur Bewertung des Infektionsrisikos mit SARS-CoV-2 über virenbeladene Aerosolpartikel werden verschiedene Innenräume miteinander verglichen. Die Zahlen der jeweils in der Situation durch eine bereits infizierte Person neuinfizierten Personen werden dabei einander gegenübergestellt. Der situationsbedingte R-Wert in Kulturstätten (zum Beispiel Theater, Kinos) sei dabei geringer als zum Beispiel in Klassenzimmern oder Büroräumen, heißt es im Abstract der Studie.

Die dynamische Lage

Nimmt man die Ergebnisse dieses Rechenmodells und die Versuche an den Konzerträumen in Dortmund und Kaiserslautern sowie die Simulationen der Pariser Philharmonie zusammen, lässt sich sagen, dass ein Besuch mit medizinischen Masken in einem hochmodern und klug belüfteten Konzerthaus oder Theaterraum definitiv weniger gefährlich ist als der Besuch einer Schulklasse, sofern man bestimmte Abstände einhält und sich auch sonst möglichst wenig bewegt oder gar miteinander spricht, und unter der Annahme, dass besuchende Menschen in dieser Zeit das Corona-Virus SARS-CoV2 in einer seiner infektiösen Varianten unbemerkt verbreiten könnten. Definitiv ungefährlich wird damit die Angelegenheit für das Publikum leider in der aktuellen Pandemie-Lage nicht. Und von Musikerinnen und anderen Darstellern sowie anderen tätigen Personen am Theater oder Konzerthaus, zum Beispiel Kantinenpersonal, Platzanweiserinnen oder Brandschutzmeister und deren Position in den Lüftungskanälen ist dabei nicht einmal die Rede. Gerade die Meldung vom 3. März, wonach 35 Balletttänzer und 3 Mitglieder der Ballett-Leitung an der Mailänder Scala positiv auf das Coronavirus getestet wurden, deutet mehr als nur an, wie leicht auch aktuell Infektionen sich ausbreiten können.

Schon im August 2020 traten Mitarbeiter der Charité Berlin mit und um den Mediziner Stefan Willich in Erscheinung mit einer „Stellungnahme zum Publikumsbetrieb von Konzert- und Opernhäusern während der COVID-19 Pandemie“, aus der das Presse-Schlagwort „Charité Berlin: Klassikkonzerte mit voller Besetzung denkbar“ wurde. Die Leitung der Charité distanzierte sich sehr schnell von diesem Paper.

Es fällt auf, wenn man all diese Erfahrungen aus Experimenten, Versuchen und Simulationen einander gegenüberstellt, dass sich an jedem Ort die Situation einzigartig darstellt. Saal ist nicht gleich Saal, die Infektionsdynamiken unterscheiden sich vor Ort ebenfalls mitunter gravierend und erfordern immer neue Reaktionen, die die Veranstaltungsbranche vor ein zentrales Problem stellen: Wie kann man in dieser dynamischen Lage überhaupt etwas längerfristig planen?

Das Unberechenbare planen

Komplex und differenziert: Matrix des Forums Veranstaltungswirtschaft zum „Manifest Restart“: ein „Konzept für bundeseinheitliche Bewertungskriterien zur Durchführung von Veranstaltungen“

Komplex und differenziert: Matrix des Forums Veranstaltungswirtschaft zum „Manifest Restart“: ein „Konzept für bundeseinheitliche Bewertungskriterien zur Durchführung von Veranstaltungen“

Seit Februar gibt es drei Initiativen (beziehungsweise Ideen), wie man mit der Situation im Kulturbereich am besten umgehen sollte. Vom Forum Veranstaltungswirtschaft liegt unter dem Titel „Manifest Restart“ ein „Konzept für bundeseinheitliche Bewertungskriterien zur Durchführung von Veranstaltungen“, wie es heißt, vor: ein außerordentlich differenzierter Öffnungsplan. Er berücksichtigt sowohl Art und Struktur von Veranstaltungsorten als auch die Größe des Infektionsgeschehens vor Ort und den Umfang von Hygienemaßnahmen. Schritt für Schritt kann man damit in Abfragen die Möglichkeit und Art und Weise der Durchführung von Veranstaltungen ermitteln.

Etwas später stellten der Deutsche Bühnenverein, der DFB mit weiteren Institutionen aus Kultur und Sport, darunter auch der Deutsche Kulturrat, ein Konzept vor, „um für die Kultur- und Sportbranche einen risikominimierenden Weg zur Rückkehr von Gästen und Zuschauern aufzuzeigen. Dabei wird ein mehrstufiges Konzept skizziert, welches in der Breite für jede Kultur- und Sportstätte funktionieren kann und gleichzeitig die Anpassung an individuelle Situationen ermöglicht“, wie die Autoren unter dem ungriffigen Titel „Schrittweise Rückkehr von Zuschauern und Gästen: Ein integrierter Ansatz für Kultur und Sport“ schreiben (unter den Beratern finden sich die oben genannten Forscher Martin Kriegel von der TU Berlin und Wolfgang Schade vom Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut wieder). Anders als beim komplexen Konzept des Forums Veranstaltungswirtschaft, das sich nicht mit medizinischen, ökonomischen, rechtlichen oder ethischen Fragen befasst, hebt man bei diesem Plan auf eine Güterabwägung zwischen möglichen oder erwartbaren Kulturverlusten, ökonomischen Problemen der Branchen (Kultur und Sport) und einer zumutbaren Belastung des Gesundheitssystems ab: „Wesentliche Grundlage für die Einschränkung von Freiheitsrechten soll die Krankheitslast auf Intensivstationen und in Krankenhäusern sein“, schreiben die Autor/-innen. Wie hoch diese Belastung sein darf, gibt man sicherheitshalber nicht an. Wie viel Kranke oder Tote kann die Gesellschaft ertragen, wäre die pointierte Gegenfrage.

Das jüngste Konzept vom 3. März 2021 stammt vom Umweltbundesamt unter dem Titel: „Eckpunkte zur Durchführung von Kulturveranstaltungen (Theater, Konzerthäuser, Kinos) unter Pandemiebedingungen“, auf das auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters verweist. Viele Autoren älterer „Studien“ trifft man hier wieder: Neben Martin Kriegel, Wolfgang Schade und Stefan Willich auch den Leiter des Umweltbundesamtes Heinz-Jörn Moriske sowie den emeritierten Direktor des Instituts für Hygiene und Öffentliche Gesundheit an der Uni-Klinik Bonn Martin Exner, die beide schon die Konzerthaus-Dortmund-Versuche begleitet hatten. Mit diesem Eckpunkteplan möchte man helfen, „das Infektionsrisiko in Kultureinrichtungen so weit zu minimieren, dass ihr Betrieb während der andauernden SARS-COV-2-Pandemie möglich ist“. In dieses Konzept sind nun Verfahren wie Antigen-Schnelltests miteingeflossen, ferner finden hier auch Veranstaltungen mit beweglichen Personen (wie in Museen) besondere Berücksichtigung. Der Genauigkeit mancher Angaben in Sachen CO2-Konzentration stehen in diesem Paper völlig unberechenbare Handlungsanweisungen gegenüber wie: „Während der Pausen sollen die Türen zum Veranstaltungsraum geöffnet bleiben, um beim hinaus- und hineingehenden Publikumsverkehr eine zusätzliche Lüftungswirkung zu erzeugen.“ Das alles hinterlässt nach wie vor keinen soliden Eindruck. Durch manche Mehrfachbesetzung von Autoren wirkt einiges nur wie wiederholt und nicht überprüft.

Pilotversuche und Experimente am Menschen

Aufsehen hat eine Meldung aus dem Februar erregt, in der die französische Kulturministerin Roselyne Bachelot den Plan offenbarte, in Marseille zwei Konzerte mit bis zu 1.000 Personen und in Paris eines mit 5.000 Besucherinnen und Besuchern unter „normalen“ Bedingungen wie Aufstehen und Bewegen, mit Hygienemaßnahmen, Maskenzwang und vorhergehender Testung durchzuführen, dabei aber das Risiko ausdrücklich zuzulassen, infektiöse Menschen nicht herauszusieben. Die Kritik spricht von Menschenversuchen, die in dieser Form in Deutschland jedenfalls nicht zulässig wären. „Denn dann hätte der Staat zusammen mit einer öffentlichen Einrichtung wissentlich eine Infektionssituation geschaffen, die nicht einmal Impfstoffentwicklern gestattet ist“, schreibt Eberhard Spreng im Berliner Tagesspiegel am 24. Februar 2021.

In Deutschland will man nicht so weit gehen. Aktuell ist in Berlin ein Pilotversuch als „Testlauf für die Öffnung von Kultur- und Wirtschaftsveranstaltungen durch ein getestetes Publikum“ geplant, der in Kooperation mit dem Berliner Ensemble, den Berliner Philharmonikern, dem Konzerthaus Berlin, der Berliner Clubcommission, der Volksbühne Berlin, der Staatsoper Unter den Linden sowie der Deutschen Oper Berlin und visitBerlin stattfindet. „Die Erkenntnisse der Testdurchläufe werden Anfang April von allen Beteiligten gemeinsam ausgewertet und von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa interessierten Institutionen zur Verfügung gestellt. Das Pilotprojekt soll ein durchführbares Szenario für die Wiedereröffnung der Kultur und die Durchführbarkeit von Veranstaltungen skizzieren sowie Chancen und Risiken betrachten.“

Wenn sich das Pandemiegeschehen, trotz zunehmender Impfungen und zugleich diverser Lockerungen weiter verschärft, wofür es leider zahlreiche Indizien gibt, ist allerdings nicht einmal sichergestellt, dass diese neun Veranstaltungen tatsächlich stattfinden. Denn, um es einmal dialektisch auf den Punkt zu bringen, all das findet nicht im „luftleeren“ Raum statt, sondern innerhalb gesellschaftlichen Lebens, mit Verkehr, Bewegung und verschiedensten Kontakten in und um das engere Kulturleben an sich. Die diversen Maßnahmen wie Impfung, Testung, medizinischer Mund-Nasenschutz, Kontaktnachverfolgungs-Apps sind Hilfsmittel auf dem Weg zu einem Kulturbetrieb, wie man ihn kannte. Aber die Lage bleibt dynamisch. Das Virus passt sich offenbar sehr schnell an veränderte Situationen an. Es wäre meines Erachtens fatal, diese wandlungsfähige Situation zu unterschätzen und sich in einer Sicherheit zu wiegen, die man durch seine Handlungen untergräbt.

Martin Hufner

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