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Berichte

Distanz mit Sehnsucht nach Nähe

Massenets »Manon« im Stream an der Hamburgischen Staatsoper

Vor Verdis „Traviata“ ist auch deren Vorläuferin Manon Lescaut eine vom Weg abgekommene. Diesem schwelgerisch-bösen Mädchentraum setzte Abbé Prévost schon 1731 ein Roman-Denkmal. Den damaligen Bucherfolg hat dann über hundert Jahre später Daniel-François-Esprit Auber als Oper gestaltet. Doch erst Jules Massenets Vertonung von 1884 wurde zu einem Erfolg, den Giacomo Puccini dann 1890 noch übertrumpfte.

Massenets Manon verlangt keinen üppigen und am Ende fast hochdramatischen, auf alle Fälle hochexpressiven Sopran, sondern „Lyrismus pur“. Dafür ist Elsa Dreisig in der Hamburger Einstudierung eine Idealbesetzung: noch ein Hauch von Kindfrau, dazu viel ungeformte Lebenserwartung, die prompt mal auf diesen und mal auf jenen Weg gelockt werden kann. Das haben Regisseur und Dirigent erfreulicherweise erkannt – und weitgehend interpretatorisch umgesetzt.

Björn Bürger als Lescaut. Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Björn Bürger als Lescaut. Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Regisseur David Bösch nutzt die Corona-Vorgaben und zeigt Menschen oft auf Distanz mit der Sehnsucht nach Nähe. Es sind Menschen in einem zeitlosen Jetzt und Hier und Heute. So genügen ein paar Stühle und Tische auf sonst leerer Bühne für die Erstbegegnung im Wirtshaus, dann für das sehr schlichte Liebesnest in Paris. Kontrastreich fulminant ist Bühnenbildner Patrick Bannwart und Kostüm-bildner Falko Herold dann Manons „Erfolg“ in der Welt des „Glitter and be gay“ gelungen: Manon als Shooting-Star im Showgeschäft, alles unter der Leuchtschrift „C‘est la vie“, alles glamouröse Oberfläche – dahinter die Glücksuche an einarmigen Banditen, wo sich die nicht so glücklichen, daher sich sexy anbietenden „Freundinnen“ Poussette, Javotte und Rosette tummeln. Die jeweilige Gesellschaft, zu Beginn im Wirtsgarten, sowie die späteren Vergnügungssüchtigen klingen nur herein: Der Staatsopernchor ist corona-bedingt hinter die Bühne verbannt (Einstudierung: Eberhard Friedrich). Dass die dann doch zu zarte Manon noch einmal das Glück bei Des Grieux sucht, ihn aus seiner religiösen Zuflucht herauslockt – all das überzeugt szenisch wie musikdramatisch. Nach dem kurzen Glückspiel-Irrglauben lässt Bösch dann alles in einer leeren Öde samt Schneefall enden, in der die Leuchtschrift von einst zerbrochen herumliegt – während Massenets Original Manon im Gefangenentransport nach Le Havre an Erschöpfung sterben lässt. Doch Bösch muss da ärgerlicherweise wieder seine „eigene Sicht“ zeigen: Manon kommt wie am Anfang mit ihrem kleinen Rucksack und trinkt Gift, noch dazu aus einem Fläschchen, das eher aus dem 19. Jahrhundert von Offenbachs Dr. Mirakel stammt – Massenet ver-schlimm-bessert! Interpretationsgewinn: null! Dafür entschädigt Dirigent Sébastien Rouland mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und mit idiomatischem Gespür die schnellen Umbrüche in der „easy“-Stimmung, den vermeintlich „leichten“ Tonfall junger Menschen im Umgang mit ihrem „leichten“ Leben, Klang werden zu lassen.

All das lässt auch Elsa Dreisig ihren musikalischen Feinsinn in Ton wie Körpersprache entfalten und macht Bösch letztlich zweitrangig. Ihr Sopran verströmt mädchenhaft scheue Süße – und blüht dann kurz auf zur großen Emotion. Ihre strahlenden Augen verwandeln sich mehrfach zu innerem Glanz: Es singt aus ihr – um dann getreu der raffiniert feinen Komposition Manons Schwäche und die Stimmungsumschwünge vokal zu gestalten bis in die melodramatischen Phrasen hinein. Eine bildhübsche junge Frau, durchs Leben gewirbelt von vokaldramatischen Windstößen der Banalität, Berechnung und Gemeinheit – gut verkörpert und gesungen durch Björn Bürgers Lescaut, Daniel Kluges Guillot-Morfontaine und die anderen Männer – all das gelingt. Zu ihnen kontrastiert der feingliedrige Des Grieux von Ioan Hotea: ein schlanker Tenor mit dem nötigen „lyrisme français“, der Schwärmerei, dem Ernst und der Schwäche vor diesen divergierenden Anforderungen des Lebens. Dreisig und Hotea bilden ein anrührend fesselndes Paar des Scheiterns. Daraus erwächst ein musikdramatisches Plädoyer für Massenet.

Wolf-Dieter Peter

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