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Hintergrund
Botschafter des Humanismus
Laudatio auf Aribert Reimann, ausgezeichnet mit dem Preis
für das Lebenswerk im Rahmen des Theaterpreises DER FAUST 2018
Über Musik zu sprechen ist vielleicht doch das Schwerste. Der „Verstand schleicht an der Krücke der Sprache“, wie einer der ersten professionellen Musikkritiker der Geschichte, Adolph Bernhard Marx klagte (1824). Die Musik dagegen hat Flügel, sie lässt sich nur mit Mühe und unter mittelschweren Verlusten mit Worten einfangen. „Tönende Luft“ sei sie, so Ferruccio Busoni (1906), „frei zu sein ist ihre Bestimmung“. Das gilt ganz entschieden für die Musik von Aribert Reimann, die von Komposition zu Komposition so unterschiedlich ausfällt, auch wenn sie sich allemal so nahe an der Sprache bewegt, und auch, wenn sie dunkel, rätselhaft und stark verdichtet wirkt. Trotz alledem kommt es mir, die ich nun schon seit vielen Jahren fast täglich an der Krücke der Sprache dieser oder jener Musik hinterherhinke, immer wieder so vor, als falle es paradoxerweise leicht, über Reimanns Musik zu sprechen. Man fühlt sich vergleichsweise unbeschwert dabei. Ja, es macht Spaß, sich damit auseinanderzusetzen, darüber nachzudenken und zu versuchen, das Gehörte, Erfahrene, Überdachte zu begreifen und auf den Begriff zu bringen. Das Wort „Spaß“ muss natürlich sofort wieder zurückgenommen werden. Es ist fehl am Platze, wenn es um eine Musik geht, die von einer so tiefen Verzweiflung erfüllt ist, wie zum Beispiel die Klage des „Lear“ oder von einer so wissenden, nagenden Melancholie wie die der Hekabe in Reimanns Anti-Kriegsoper „Troades.“
Ersetzen wir „Spaß“ durch „Lust“. Oder: durch „Ergriffenheit“. Oder: „Betroffenheit“. Warum ist die Rezeption von Reimanns Musik so lustvoll und ergreifend, und zwar auf allen Ebenen, kognitiv, rational, emotional?
Aribert Reimann und Laudatorin Eleonore Büning. Foto: Markus Nass
Weil sie so komplex verständlich ist. Weil sie aus dem Duktus der Menschenstimme entwickelt ist. Weil sie den Hörgewohnheiten des Publikums freundlich mit Zumutungen entgegenkommt. Und: weil sie keiner anderen Regel folgt, als der, die sie sich selber gibt. Es ist charakteristisch für das Reimannsche Œuvre, dass jedes seiner Werke anders ausfällt. Ein jedes hat seinen eigenen Tonraum, neue, andere stilistische Mittel, eine eigene Signatur. Dabei sind alle seine Werke eindeutig „reimännisch“. Man könnte auch sagen, in Anlehnung an die Lehre der Wagnerschen Kunstfigur eines großen Meistersingers: sie sind „hans-sachsisch“. Um noch einmal aus Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ zu zitieren: „Wer gegebenen Gesetzen folgt, der hört auf, ein Schaffender zu sein.“ Aribert Reimann dagegen, der so bescheiden und weise war, den von ihm 1988 gestifteten Kompositionspreis der Berliner Akademie der Künste nicht nach sich selbst, sondern nach Ferruccio Busoni zu benennen, sagt es handwerklich und berlinerisch schlicht: „Ich kann mich einfach nicht wiederholen. Was gemacht ist, ist gemacht.“
Zum Beispiel: „Ein Traumspiel“, nach Strindberg. Reimanns erste abendfüllende Oper von 1965 – die wenigstens kennen sie – wurde seit der Uraufführung nur zweimal neu inszeniert, in mehr als einem halben Jahrhundert. Das Stück erzählt von einer göttlichen Prüfung, die mit der Erkenntnis endet, dass irdisches Leid unvermeidlich sei: „Schade um den Menschen“, lauten die letzten Worte. Neulich kam das Stück am Theater in Hof wieder heraus, es wurde dann nachts irgendwann auf Deutschlandradio Kultur übertragen. Ich brauchte die Bühne nicht, es reichte die Hörbühne aus, um in diesen Sog zu geraten: eines ausgreifenden Espressivo, der schön schwebenden Melodien, der rhythmisch vertrackten gezackten musikalischen Prosa, darin die Stimmen sich in weite Intervallsprünge stürzen, das ausgesparte, solistisch geführte Orchester mit den vielen scharfen, klaren Charakterfarben. Man hört sofort: Reimann ist Stimmen-Kenner. Man hört auch, am Radio vielleicht noch besser als im Theater: das Verhaftetsein in der magersüchtigen Avantgarde-Musiksprache der Sechziger, den Einfluss Weberns, auch Alban Bergs.
Ganz anders seine jüngste Oper, dreiteilig wie ein Flügelaltar, ein Triptychon: „L’Invisible“ nach Maurice Maeterlinck. Das Stück, uraufgeführt 2017 an der Deutschen Oper Berlin in der Regie von Vasily Barkhatov, demnächst in Braunschweig von Tatjana Gürbaca nachinszeniert, handelt vom Sterben. Hier sind die Farben debussyesk und dunkel. Knurrende Kontrabässe geben den Ton an. Weit auseinandergefächerte Holzbläser diskutieren miteinander wie Chöre von Menschenstimmen. Kein hoher Streicher illuminiert die zweite der drei symbolistisch aufgeladenen Variationen eines erwartbaren Kindstods, unsichtbar auch die drei Todesboten, drei Countertenöre, die verschwinden im Off. Menschen verschwinden, sagte Reimann dazu: „Das ist es, was wir in unserer Gegenwart erleben, pausenlos“.
Preisgekrönt: Aribert Reimann. Foto: Markus Nass
Man könnte stundenlang so weitermachen: schwärmen von Reimanns atemraubender „Medea“ – kein Monster, vielmehr eine junge Frau mit auch leisen Tönen, die den Riss in der Welt wieder kitten will; uraufgeführt in Wien, nachgespielt in Frankfurt und Berlin, kommt demnächst in Essen im März am Aalto-Theater neu heraus. Vom „Lear“, der aktuellsten, meistgespielten Oper der Gegenwart, zuletzt in Salzburg zu erleben, nächstes Jahr in Florenz und Paris. Von der „Gespenstersonate“, demnächst in Sidney auf dem Spielplan. Den „Sieben Fragmenten für Orchester“ von 1987, in memoriam Robert Schumann, unlängst wieder aufgeführt in der Berliner Philharmonie. Aus dieser Handvoll Daten lässt sich ablesen, dass und wo die Musik Reimanns im Musikleben angekommen ist: nämlich überall. Seine Opern werden aufgeführt in großen und kleinen Häusern, seine Instrumentalmusik ist präsent in den Konzertsälen, national und international. Aus dem Außenseiter und Einsiedler im Turmzimmer in Grunewald, für den er sich hielt und der er vielleicht einmal war und manchmal noch ist, wurde längst ein Global Player, der nicht nur sein Publikum gefunden hat, sondern auch zum Botschafter der zeitgenössischen Musik avancierte in einem dem Mainstream verpflichteten Musikbetrieb – wie kein zweiter lebender Opernkomponist.
Dieser Reimann ist neugieriger als ganz Darm
stadt und Donaueschingen
zusammen.
Weitaus schwieriger ist es, den Komponisten Reimann zu beschreiben. Er hat so viele verschiedene Seiten. Er passt in keine Schublade. Sagte ich gerade eben: „Opern-Komponist“? Stimmt – und stimmt nicht. Nur neun seiner über 70 Werke sind Opern. Keine einzige davon hat etwas mit Glamour oder Gala zu tun, mit Plüsch oder Lüster, keine einzige hat ein Happy-End! Wortgebunden sind freilich viele andere seiner Stücke auch, nicht umsonst ist Reimann seit seinen Anfängen auch als Pianist und Liedbegleiter unterwegs gewesen. Ich habe ihn einmal, vor langer Zeit, den „Altgierigen“ unter den Komponisten unserer Zeit genannt, weil er sich, unter Einfluss seines Lehrers Boris Blacher, schon früh aus der Avantgarde ausgeklinkt und der Tradition zugewandt hatte. Reimann schrieb nie rein elektronische Stücke, er entkernte keine Fragmente, komponierte nichts Dekonstruiertes, baute keine Tonband- und Geräuschcollagen. Stattdessen hat er die Potenziale des großen romantischen Symphonieorchesters, wie es sich als sprachfähiger Klangapparat im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, immer wieder neu erprobt, verwandelt und verändert. Und irgendwann habe auch ich dann gemerkt: Falsch, dieser Reimann ist neugieriger als ganz Darmstadt und Donaueschingen zusammen. Und auch einen Geschichtspessimisten sollte man ihn nicht nennen, trotz seiner Vorliebe für die Nachtseiten des Lebens, für die Ausgestoßenen und das Apokalyptische.
Eine Spur schwarzer Trauer zieht sich unüberhörbar durch sein Œuvre, das ist wohl wahr. Dabei kann Reimann sehr witzig sein. Ich erinnere mich an homerische Lachsalven, aus Anlass eines winzigen pinken Kinder-Ventilators, der ihm einen glühend heißen Festivalsommertag in Salzburg verwirbelte. Dass eine Dame, die ihm im feinen Dresdner Taschenbergpalais vorgestellt wurde, sich herzlich freute auf seinen „Lear“, den sie für eine Art champagnerselige Operette hielt (auf sächsisch klingt „Lee-or“ wie Lehár), das freut wiederum ihn heute noch. Und auch Ironie gehört zu seinem selbstkritischen Besteck. Nur Sarkasmus oder Zynismus, die kennt er nicht.
Schließlich: Jedes Werk, das er komponiert, transportiert mehr oder weniger offen eine humanistische Botschaft. Es gibt keine Kunstäußerung von Aribert Reimann, die nicht von einem besseren Leben im Falschen weiß. Das ist gewissermaßen die hoffnungshelle Rückseite all der nächtlichen Traumata, die er verkomponiert. Ich möchte sie nennen: Die politische Dimension seiner Musik. Er selbst sagt das anders, einfacher: „Ich kann keinen Stoff als Oper vertonen, der nichts mit unserer Zeit zu tun hat. Der Zeitbezug zu unserer Gegenwart bestimmt alle meine Opern“. Und ein andermal: „Ich trage meine Stoffe immer sehr lange mit mir herum. Jahrzehntelang. Wie und wa-rum wird daraus eine Oper? Wenn auf der Bühne Menschen einander gegenüberstehen, muss sich eine Spannung aufbauen. Ohne das wäre Musik, wäre Gesang nicht möglich.“
Eleonore Büning |