|
Berichte
Die beste aller Welten...
Leonard Bernsteins »Candide« an der Komischen Oper Berlin
Ein bisschen wie die Herangehensweise seines Regisseurs ist auch das Stück selbst: sprunghaft, fantasievoll, knallbunt, heterogen erscheinende Ebenen schnell wechselnd und verbindend.
Leonard Bernsteins „Candide“ ist das vielfach als Zusammenhanglosigkeit zum Vorwurf gemacht worden. Doch Barrie Kosky deutet solche Schwächen zu Stärken um. Allein schon die auf Voltaires satirischem Roman „Candide oder der Optimismus“ beruhende Story wechselt derart schnell die Schauplätze, vom Schloss Thunder-Ten-Tronck im behäbigen Westfalen, wo der Held als unehelicher Adelsspross aufwächst, nach Spanien, Paraguay, Eldorado und zurück nach Venedig, dass sie verschiedene Musikstile geradezu herausfordert. Mit ehrwürdigen A-capella-Madrigalen, Beethoven-Anklängen, nach Art Gustav Mahlers zersplitternden Walzerklängen oder Barcarolen à la Offenbach vollzog Bernstein eine „Verbeugung vor der europäischen Musikkultur“, gemischt mit Jazz und Latino-Folklore, die das Werk zwischen Oper und „Comic Operetta“, Revue und Musical positionierte. Irritiert waren da nicht nur diejenigen, die den Komponisten nach dem Welterfolg der „West Side Story“ ausschließlich als Vollender des amerikanischen Musicals sahen.
Allan Clayton als Candide. Foto: Monika Rittershaus
Und erst das Libretto! Unzählige Überarbeitungen erfuhr die etwas biedere Originalfassung von Lillian Hellman, um die Geistesvolten einzufangen, die der Vordenker der Aufklärung zur Entlarvung der „besten aller möglichen Welten“ des Gottfried Wilhelm Leibniz vollführt. Kosky entscheidet sich für Martin Bergers deutsche Version nach John Cairds Adaption von 1999, spitzzüngig, scharf, sarkastisch. Mit aller Drastik setzt er die Irrfahrten des gutgläubigen Helden durch die Katastrophen seiner Zeit, das Erdbeben von Lissabon, den Siebenjährigen Krieg und allerlei Gewaltherrschaften, in Szene. Franz Hawlata ist der erzählende Voltaire und sein Widersacher Pangloss in einem, der unter seiner überdimensionalen Perücke verschwindend die Philosophie des Optimismus doziert: „Was möglich ist, ist wirklich, und alles, was existiert, ist gut.“ In der Sprachfärbung des bayerischen Bassbaritons entfaltet das seinen eigenen, sehr heutigen Zynismus. Kostümbildner Klaus Bruns steckt den nicht gerade schlanken Candide-Darsteller Allan Clayton in krachlederne kurze Hosen und Karohemd, Inbegriff des tumben Tors, dessen reiner Tenor allein die – hier nicht stattfindende – Entwicklung zur Erlöser-Lichtgestalt erahnen lässt. Seine Jugendliebe Kunigunde, die er nach langen Jahren missbraucht und geschändet wiederfindet („totes Fleisch, das nichts mehr spürt“), besticht mit flirrender Koloratur: Nicole Chevalier singt „Glitter and Be Gay“, eine Juwelenarien-Parodie, sich dabei auf einem Tisch um eine Pole-Dance-Stange windend, voll verzweifelter Raffinesse, die höchsten Töne hysterisch herauskieksend. Anne Sofie von Otter als „Alte Frau“ ist ihr Pendant, mit ihrem „Lob der Anpassung“ fast schon eine Mrs. Peachum. Von beklemmender Komik auch die Nummer „Wir sind Frauen“, in der die Damen im Käfig dem züngelnden Gouverneur ihre Reize darbieten und meinen, sich damit ihr „Stück vom Kuchen“ nehmen zu können.
Starke Bilder entstehen, wenn Menschenmassen Rebecca Ringsts kahle Bühne bevölkern. Selten zeigt sie bildliche Zeichen wie die drei schattenhaft aufragenden Kreuze, an denen Pan-gloss und andere Ketzer gehängt werden. Juden und ein Flüchtlingspaar lässt Kosky dazu noch erschießen; die Überfahrt ins Gelobte Land Eldorado findet auf Schlauchbooten statt. Dass man alte Geschichten bruchlos ins Heute fortdenken kann, zeigen auch die erneut fabelhaft agierenden Chorsolisten der Komischen Oper, die nach Krieg und Naturkatastrophen lachend wieder aufstehen dürfen – sie werden für neue Schlachten gebraucht. Hier kehrt sich die spaßhafte „beste“ in die „schlechteste aller möglichen Welten“, der sich nichts als das Bestellen des Gartens entgegensetzen lässt. Jordan de Souza leitet das Opernorchester beschwingt, hochpräzise wird gespielt und gesungen – weder die Längen der dreistündigen Aufführung noch die enttäuschende Banalität des Endes lassen sich damit ganz überspielen.
Isabel Herzfeld |