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Schwerpunkt
Bewährtes bleibt
Zweit- und Wiederaufführungen von zeitgenössischen Musiktheaterwerken
„Es hofft der Mensch, so lang er lebt.“ Friedrich Schillers idealistische Grundannahme dürfte gerade für viele Musiker zutreffen. Sie gehen davon aus, dass „die Welt“ (oder wenigstens die etwas überschaubarere „Musikwelt“ hiesiger Breitengrade) allemal auf neue Arbeiten aus ihren fleißigen Komponierstuben, goldenen Kehlen oder emsigen Händen wartet, und dass dieses Interesse sogar über das Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben hinaus andauert. Andererseits hält sich bei den Endverbrauchern der Ton- und Bühnenkünste hartnäckig der Wunsch, dass neben das Gewohnte (in eingespielter oder aktualisierter Form) auch genuin Neues und möglichst sogar Innovatives tritt. Letzterem gilt in nicht unerheblichem Maß die Förderungspolitik der „öffentlichen Hände“.
Andererseits lehrt gerade die Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass eine erstaunlich große Zahl von Musikschaffenden nicht nur bereits zu Lebzeiten ihre Propheten in den Medien und einschlägigen Wissenschaften gefunden haben, sondern auch nach ihrem Ableben mit Instituten, Stiftungen und Museen bedacht wurden. Das Spektrum reicht vom Schönberg Center oder der Alban-Berg-Stiftung in Wien, der Max-Bruch-Gesellschaft in Sondershausen, der Kurt Weill Foundation in New York oder dem Ernst-Krenek-Institut in Krems bis zu diversen Puccini-Gedenkstätten in der Toskana, dem Elisabeth-Schwarzkopf- oder Walter-Legge-Museum (beide in Vorarlberg) oder zum Humperdinck-Haus in Siegburg. In bestimmten Phasen der europäischen Kultur, zu deren charakteristischen Kennzeichen auch die bereits von Jacob Burckhardt diagnostizierte „Befähigung zu Renaissancen“ gehört, überwiegt offenkundig das Interesse an Eingebürgertem und Sedimentiertem.
Der alte Widerstreit
„Perelà“ in Mainz mit Geneviève King, Peter Tantsits, Statisterie und Chor. Foto: Andreas Etter
Auch im Bereich des Musiktheaters liegen die Prinzipien von mehr oder minder beständiger Innovation im Widerstreit mit der Pflege des Erprobten und Anerkannten – des „Repertoires“ (samt den „Raritäten“ aus älteren, zumindest teilweise vertrauten Schichten, die ergänzen). Nachdem zu Beginn der Operngeschichte Erstere selbstverständlich war, haben die Mechanismen der „Kanon-Bildung“ und Traditionspflege im 20. Jahrhundert die Oberhand gewonnen. Die „Zweitaufführungen“ bilden die Scharniere. Damit sich etwas pflegen lässt, muss es nicht nur in die Welt gesetzt, sondern entweder positiv beachtet werden oder „Sorgenkind“, also eine Art Patient geworden sein. Von Letzterem ist im Fall von Michael Obsts „Solaris“ auszugehen. Anlässlich der Uraufführung Ende 1996 in München erklärte die Wochenzeitung „Die Zeit“ dies Musiktheater zutreffend zur „Soap mit Aliens“ und riet von weiterer Bemühung ab. Zu Beginn der Saison 2016/2017 bietet das Landestheater Linz nun erstmals eine Neuproduktion an. Offensichtlich scheinen zwanzig Jahre als ausreichende Schamfrist (niemand in Linz dürfte sich an den fernen Münchener Event erinnern). Angesichts der Publikums-Erziehung in der oberösterreichischen Landeshauptstadt durch verschiedene sciene-fiction-geprägte Produktionen mag die Direktion von der Annahme ausgehen, dass die Zeit reif sei für neuerliche „Erprobung“. Vielleicht will man sogar einen rezeptionsgeschichtlichen „Irrtum“ auswetzen.
Begrenzter Kanon
„Im Opernrepertoire haben wir mehr noch als im Schauspiel das Problem, dass der gängige Kanon der gespielten und bekannten Werke sehr begrenzt ist“, ruft Holger Schultze in Erinnerung. Der Intendant des Heidelberger Theaters hat bereits seinen Spielplan in Osnabrück in erheblichem Umfang mit Zweitaufführungen bestückt. Hier wie dort habe er „die Erfahrung gemacht, dass sich durch kontinuierliche Aufführungen von neuen Werken jede Spielzeit auch die Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums verändern. In unserer Ex- und Hopp-Gesellschaft ist es mir sehr wichtig, auch bei Autoren und Komponisten der Gegenwart eine Kontinuität und Nachhaltigkeit bei den Aufführungen zu erlangen. Und jede Zweitaufführung ist ja auch ein spannender neuer theatraler Versuch.“ Der zehrt von dem evidenten Umstand, dass Qualitäten und Schwächen, Publikums- und Presse-Reaktionen beim zweiten Anlauf in umsichtiger Weise Rechnung getragen werden kann. „Dem Publikum ist es doch egal, ob Erst- oder Zweitaufführung“, ergänzt Schulze. „Wichtig ist die Qualität des Werkes, und wenn die stimmt, kommt sogar die Presse zur Zweitaufführung“.
„Dem Publikum ist es doch egal, ob Erst- oder Zweitaufführungen. Wichtig ist die Qualität des Werks.“
Im Fall einer der schließlich erfolgreichsten Kreationen des späten 20. Jahrhunderts ist dies evident: Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ erzielte nach der Uraufführung in Hamburg 1997 eine exzellente „Auslastungsquote“. Dies minimierte das Risiko der Zweitproduktion, für die das Staatstheater Stuttgart mit der Opéra National Paris kooperierte und ein damals „angesagter“ Berliner Opernintendant (Peter Mussbach) als Regisseur verpflichtet wurde. Nachdem auch verwöhnten und überwiegend neokonservativ gestimmten Opernfreunden Lachenmanns Offerte zu neuem Hören zugesagt hatte, war das „Mädchen“ bereits mit dem Nimbus des „Klassischen“ umgeben und sein Haupturheber endlich ein gemachter Mann. Tokio, Wien, Salzburg und Frankfurt zogen nach.
Die allzu reichliche Speisekarte
Auch die Oper Frankfurt brachte „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Foto: Monika Rittershaus
Dass bei weiteren Produktionen eines Werks das Terrain bereits grundsätzlich vermessen ist und in mehrfacher Hinsicht Erfahrungen vorliegen, kann sich für die späteren Arbeiten förderlich erweisen, aber auch hemmend. Dies war aufschlussreich zu beobachten bei der deutschen Erstaufführung von Pascal Dusapins „Perelà – uomo del fumo“ (UA Paris Bastille 2003), die Lydia Steier 2015 am Staatstheater Mainz inszenierte – als bunt bewegtes, mit historischen Anspielungen prunkendes und bestens goutierbares Gegenmodell zur eher kühl-distanzierten Erstproduktion von Peter Mussbach in einem historisch-gesellschaftlichen Niemandsland. Auch umgekehrt kann es verlaufen: Dass bei der Zweitaufführung die Faszination der Uraufführung nicht mehr nachvollziehbar erscheint, die Schwächen des Stücks unbarmherzig hervortreten. So erging es George Benjamins „Written on Skin“, plausibel und packend in der Regie von Katie Mitchell 2012 uraufgeführt in Aix-en-Provence – und unfreiwillig entzaubert ein Jahr später von Magdolna Parditka in Bonn.
Die nun beginnende Saison wird zwei Arbeiten dem Nachhaltigkeitstest unterziehen, die beim ersten Erscheinen zumindest als „interessant“ eingeschätzt wurden. Die Oper Frankfurt versucht es mit Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ (UA Basel 2012), Heidelberg – im Gefolge von Covent Garden London und Deutscher Oper Berlin – mit „Morgen und Abend“ von Georg Friedrich Haas (2015). Und dies, obwohl gerade nebenan in Schwetzingen das sensationelle „Koma“ von Händel Klaus und Georg Friedrich Haas frisch herauskam. „Ich sehe das überhaupt nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung“, meint Holger Schultze. Aber das ist ja das Kardinalproblem aller neuen Arbeiten im keineswegs ungebrochenen Traditionsstrom und unter den sich stets noch verschärfenden Bedingungen der „Aufmerksamkeitskultur“: Dass sie nicht nur zu dem in Konkurrenz treten, was gleichzeitig neu entsteht, sondern auch zu dem inzwischen fast unendlich Vielen, was seit der „Erfindung“ der Oper zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Betrieb nährte. Von den seither angebotenen weit über hunderttausend Werken musste und muss wegen der begrenzten Aufnahmefähigkeit der Kundschaft zwangsläufig der größte Teil wieder ausgeschieden werden. „Zweitaufführungen“ können sich da als Verdauungshilfe bewähren.
Frieder Reininghaus |