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Editorial 2016/04 von Gerrit Wedel

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»Juliette« an der Berliner Staatsoper

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Berichte

Traumgestalten einer Schubladenwelt

»Juliette« an der Berliner Staatsoper

Immer neue Traumgestalten entsteigen den Schubladen in den weißen Wänden des Bühnenbildners Alfred Peter, der die Szenographie zur selten gespielten Bohuslav-Martinů-Oper „Juliette“ entworfen hat. Als Bewohner eines Traumdorfes bieten die solistisch singenden Chormitglieder der Staatsoper eine höchst geschlossene Ensembleleistung – sowohl solistisch als auch auf die chorische Mischung hin wurde hier im Rahmen einer anspruchsvollen Regie von Claus Guth gründlich musikalisch gearbeitet. Der Buchhändler Michel ist kein eindimensionales Opfer seines Liebestraums.

Michel öffnet die besagten Schubladen eigenhändig. Doch Michel hat auch keine Wahl. Es gibt keine Türen nach außen. Wenn Michel den Griff nach der Freiheit tut, erwischt er den Griff einer weißen Schublade. Rolando Villazón als Michel liefert stimmlich wie darstellerisch eine große Leistung ab. Villazón muss keinen Psychopathen geben, sondern als Darsteller nur die Projektionsfläche seiner garstigen Träume bieten: Es ist ja das Äußere der Handlung, welches mit der Fantasiegeliebten Juliette und den anderen Traumgestalten Michels Inneres zeigt. Auf Monströses menschlich und damit komisch zu reagieren: Das ist die Spezialität dieses Sängers, welcher immer auch eine Schwäche für die Clownerie hatte. Claus Guth folgt unprätentiös den Stärken von Villazón und macht ihn für den Michel zur Idealbesetzung.

Rolando Villazón als Michel. Foto: Monika Rittershaus

Rolando Villazón als Michel. Foto: Monika Rittershaus

Michel liebt seine Träume – und vor allem den einen von Juliette –, aber er will sich partout nicht damit abfinden, dass diese Juliette wie alle Traumgestalten keine Erinnerungen hat und somit auch keine gemeinsamen romantischen. Für den Bühnenautor Neveux gab insbesondere die Unfähigkeit der Traumgestalten zur Erinnerung Stoff für das Drama „Juliette oder Der Schlüssel zu den Träumen“.

Die Kreation der Titelgestalt durch Magdalena Kožená, so punktuell auf den zweiten Akt begrenzt ihr Auftritt ist, bietet auf faszinierende Art eben jenen Schlüssel zu den Träumen. Dem in diesseitiger Verzweiflung zappelnden Rolando Villazón als Michel stellt sie eine zeit- und raumlose und doch sehr menschenähnliche, gefühlsechte Traumgestalt von bezaubernder stimmlicher Noblesse entgegen. Auf kongeniale Art sind es Kožená und Villazón, die das historische Gedankenexperiment des Surrealismus für das Medium der Oper fruchtbar machen.

Aus Martinůs Musik ergibt sich diese Fruchtbarkeit nur bedingt. Es ist ein von Daniel Barenboim präzise und klangschön einstudierter Abend, musikalisch verantwortungsvoll und ob der großen Stimmen auch in den kleinen Rollen der Dorfbewohner – der bewährte Neue-Musik-Bariton Wolfgang Schöne ist auch mit 76 bestens in Schuss – eine modellhafte Aufführung. Wie man diese Repertoireerweiterung aus musikalischer Sicht bewerten soll, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Martinůs berühmter witziger Kammerstil, den er sich in den 1920er-Jahren in Paris von der Groupe Les Six abschaute, funktioniert, zur großen Oper kanonisiert, nicht mehr ganz so gut.

Es ist eine gelenkige Musik, die auf die quirlig-sinnlose Welt der erinnerungslosen Stadtbewohner ebenso reagieren kann wie auf die traurig-illusionäre Liebesszene zwischen Michel und Juliette. Aber es ist eine Musik ohne besondere Eigenschaften, ohne Fingerabdruck ihres Schöpfers. Vielleicht ist diese Eigenart Absicht, gerade weil die Musik erinnerungs- und geschichtslose Figuren begleitet. Einzig als Michel nach seinem tödlichen Schuss auf Juliette hingerichtet werden soll, bringt Martinů seine Interpreten zu einem dramatischen Schwingen; jazzig fängt das Ensemble an zu grooven. Hier zeigt Martinů einmal eine stilistische Verbindlichkeit im Sinne seines Paris der 20er-Jahre. Klassische Operndramatik und Unterhaltungsmusik gehen auf geniale Art zusammen: Das hätte im Musiktheater richtungsweisend werden können, doch über drei Stunden fällt Martinů nichts Vergleichbares ein.

Matthias Nöther

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