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Editorial 2016/04 von Gerrit Wedel

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Spielpläne 2016/2015

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Spannendes vor Industriekulissen

Johan Simons zweites Ruhrtriennale-Jahr: Auftakt mit Alceste

Schon die Maße sind beeindruckend: 66 Meter lang, 20 Meter breit und 21 Meter hoch. Die Jahrhunderthalle in Bochum ist das imponierende stählerne Zeugnis einer längst vergangenen Industrieepoche. Hier eine Oper zu inszenieren ist eine besondere Herausforderung, akustisch wie szenisch. Johan Simons glückt dieses Unterfangen. Er hatte sich - getreu dem Ruhrtriennale-Motto „Seid umschlungen“ - zur Eröffnung der diesjährigen Festivalsaison die Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck vorgenommen, die die Geschichte der sich für ihren Mann opfernden Königsgattin Alceste erzählt. Die Premiere wurde einhellig umjubelt und sorgte nicht nur wegen der Inszenierung von Ruhrtriennale-Leiter Simons für dreieinhalb Stunden musikalische und szenische Spannung.

Gut die Hälfte der Halle hat Simons zur Spielfläche umfunktioniert, wahrhaft palastartige Ausmaße also, was in diesen Dimensionen kein Opernhaus bieten kann. Das Publikum sitzt an einer Längs- und einer Querseite der Spielfläche, so dass sich das Geschehen teilweise in recht großer Entfernung abspielt. Simons achtet bei seiner weiträumigen Personenführung jedoch darauf, dass jede Ecke der Bühne immer mal wieder bespielt wird. Um diesem raumgreifenden Bühnenkonzept gerecht zu werden, werden zumindest die Solisten akustisch ans Publikum herangeholt und mit Mikroports dezent verstärkt. Ansonsten enthält Simons sich modischer multimedialer Spielchen und szenischer Mätzchen. Die Bühne ist karg möbliert, nur Unmengen an weißen Plastikstühlen werden als szenische Hilfsmittel benutzt: zum stapeln, werfen, sitzen und an einer Stelle um einen ganzen Berg davon mit viel Getöse von der Decke auf den Boden krachen zu lassen. Simons setzt stattdessen auf die Eigenkraft des Dramatischen, die sich in dieser Inszenierung nicht zuletzt dank der großartigen schauspielerischen Leistung aller Beteiligten zunehmend einstellt.

„In Medias Res“. Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale

„In Medias Res“. Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale

Das Ensemble überzeugt aber vor allem musikalisch. Die Leitung liegt in den Händen von René Jacobs, der das Orchester B‘Rock zu feurigem, über die gesamte Strecke höchst inspiriertem und mitreißendem Spiel anhält. Als Chor fungiert MusicAeterna, Teodor Currentzis‘ Hausensemble aus dem russischen Perm, mit vokalem Glanz und sonorer Fülle. Auch das Sängerensemble ist durchweg erstklassig besetzt: unter anderem mit Birgitte Christensen als stimmlich betörender Alceste, Thomas Walter als schneidigem Admeto oder mit einem brillanten und wandlungsfähigen Georg Nigl, unter anderem als Herold, die alle Gesangskunst auf hochgradigstem Niveau bieten. Das eindringliche Schlussbild, bei dem die beiden Kinder des Königspaares allein auf der weitläufigen Bühne stehen und in eine ungewisse Zukunft blicken, bleibt nachhaltig in Erinnerung. Fazit: ein spannender barocker Opernabend vor kontrastreicher Industriekulisse, ein Ereignis!

„In Medias Res“: Dante getanzt

Es ist der zweite Teil einer Trilogie über Dantes Göttliche Komödie, nachdem der erste Teil – „Model“ – 2015 bei der Ruhrtriennale Premiere hatte: „In Medias Res“ lautete der Titel der knapp einstündigen Tanzproduktion von Richard Siegal im PACT (performing arts choreographisches zentrum) des Essener Zollvereins. Der Titel bezieht sich dabei auf das Reich zwischen den Welten, das in Dantes vor 700 Jahren entstandenem Werk als Purgatorium, einem Ort der Reinigung für die von der Sünde verunreinigten Seelen, fungiert. Siegal schafft dazu ein bizarres Arrangement. Er serviert seine Deutung von Dantes Opus Magnum als siebengängiges Menü, das vom Oberkellner (Frédéric Stochl), der im Übrigen auch Kontrabass spielt, mit elektronisch verzerrter Stimme die Menüfolge verliest und Gedichte von Artaud rezitiert. Die vier Tänzer (Corey Scott-Gilbert, Kévin Quinaou, Diego Tortelli und Vânia Vaz) bewegen sich zu Klanglandschaften von Lorenzo Bianchi Hoesch, liefern sich wilde, zuweilen von asiatischer Kampfkunst inspirierte Kämpfe und machen ansonsten vor allem eines: Krach und Dreck. Das kulminiert am Ende so weit, dass die am Anfang weiße Bühne komplett von Staub und Dreck verunreinigt ist: die Sünde hat alles befleckt. Doch – und das ist der eigentliche Coup dieser Inszenierung – plötzlich wird alles von einem gigantischen Loch in der Rückwand der ehemaligen Waschkaue eingesogen. Die Sünden sind weg, die Protagonisten machen sich nackig und waschen alles unter den noch original vorhandenen Duschen ab. Abtritt. „Tout est pardonné“ (Alles ist vergeben) steht in großen Lettern über dem Portal, durch dass alles verschwindet. Ein starker Abgang.

„Nicht schlafen“: Mahler getanzt

Er ist so etwas wie ein Dauergast bei der Ruhrtriennale: Alain Platel. Nach Projekten zu Musik von Monteverdi, Bach und Mozart widmet sich Platel in seiner Produktion „Nicht schlafen“ in der Bochumer Jahrhunderthalle der Musik von Gustav Mahler. Er kombiniert Auszüge aus Werken Mahlers mit afrikanischer Musik, Naturgeräuschen und mit einem artistischen, sehr körperbetonten Tanzstil. Inspiriert ist die Produktion auch von dem Buch „Der taumelnde Kontinent“, in dem der deutsche Autor Philipp Blom die Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufleben lässt. Das Ergebnis ist ein spannender Abend, der dem neunköpfigen Ensemble alles abfordert und dem Publikum faszinierende, zuweilen aber auch verstörende Bilder bietet.

Johan Simons enthält sich modischer multimedialer Spielchen und szenischer Mätzchen. Er setzt stattdessen auf die Eigenkraft des Dramatischen.

Bei diesem Stück entwickelt sich alles erst nach und nach: der Tanz ebenso wie die Musik. Am Anfang passiert erst mal nichts. Es gibt keinen richtigen Beginn in Platels neuem Stück, denn einige Tänzer sind schon auf der Tanzfläche, während das Publikum seine Plätze noch einnimmt, andere trudeln nach und nach ein. Doch plötzlich schlägt die Stimmung um: Eine wild inszenierte Prügelei entspinnt sich. Die Tänzer gehen aufeinander los, reißen sich auf brutalste Weise die Kleider von den durchtrainierten Leibern, bis der Spuk schließlich genauso blitzartig wieder vorbei ist. Auch die Musik entwickelt sich nach und nach. Zuerst klingen Glocken, dann entfaltet sich ein schillerndes musikalisches Panorama, das auf Musik von Mahler zurückgreift, aber auch afrikanische Musik und Naturgeräusche beinhaltet. Zusammengestellt wurde sie von Jan Vandenhouwe, der seine musikalische Collage zu einem spannenden und kontrastreichen Soundtrack mit vielen dramaturgisch komprimierten Episoden verdichtet hat.

Im Zentrum des Bühnengeschehens thronen mehrere Tierkadaver, die im Laufe des Abends immer wieder zum Klettergerät umfunktioniert werden: Sinnbilder einer verrottenden Gesellschaft, die zutiefst verunsichert ist. Sie gehen auf das Konto der belgischen Künstlerin Berlinde De Bruyckere, einer der bedeutendsten Bildhauerinnen der Gegenwart, zu deren Markenzeichen präparierte Pferdekadaver gehören, ebenso wie Skulpturen, die den menschlichen Körper in all seiner Verletzlichkeit zeigen. Platel verlangt enorm viel von seinem Ensemble. Der Stil ist athletisch, schnell, zuweilen von artistischen Verrenkungen geprägt. Zuweilen passiert aber auch schlichtweg nichts: die von Band zugespielte Musik schweigt dann, die Tänzer verharren in Bewegungslosigkeit. Totenstille und Todesahnung: das Publikum starrt in solchen Momenten gebannt auf die Tanzfläche.

Die Tänzer machen sich dabei einen Ausdruckskanon zu eigen, der dem Alltäglichen entspringt: niesen, rülpsen, spucken und singen gehört zu ihren Aufgaben. Und das machen sie mit außerordentlicher Spannung, körperlich sowieso, aber auch im Hinblick auf einen möglichst authentischen Ausdruck. Dabei schreckt Platel auch vor kalkulierten Provokationen nicht zurück: wenn sich etwa ein Tänzer seiner Unterhose entledigt und seine Genitalien in rhythmischen Zuckungen herumschleudert ist die Intention offensichtlich. Es sei indes dahingestellt, ob es dazu solch abgeschmackter Aktionen bedarf. Fast eindreiviertel Stunden dauert Platels ohne Pause durchgespieltes Stück, das mit zuweilen drastischen aber immer authentischen und bildgewaltigen Szenen aufwarten kann. Das Ensemble schont sich dabei nicht und gibt über die gesamte Strecke alles, inklusive körperlicher Malträtierungen und Gesangseinlagen, die mehr als nur folkloristisches Niveau haben.

Guido Krawinkel

 

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