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Im vollständigen Dunkel

Georg-Friedrich Haas‘ Oper „Koma“ bei den Schwetzinger Festspielen

Das Musiktheater rückt dem Koma zu Leibe – jenem Zustand, in dem die tief Weggetretenen und in den meisten Fällen schon definitiv Entschlafenen auch durch starke äußere Stimuli wie Liebes- und Schmerzreize, durch chemische Keulen oder laute neue Musik nicht mehr geweckt werden können. Für die ungemütliche Annäherung an den „letzten Schlaf“ sorgen der österreichische Autor Händl Klaus und der Komponist Georg Friedrich Haas in der Idylle des Schwetzinger Schlossparktheaters. Zum dritten Mal begaben sie sich in die Grenz- und Grauzonen von schwerbeschädigtem Leben und mehr oder minder schrecklichem Sterben.

„Koma“ ist der dritte Teil einer von Händl und Haas für das Mai-Festival des SWR konzipierten Trilogie. Die neue Oper erweist sich als hochgradig ein- und ausdrucksintensiv. Die Harmonik des flächig angelegten Instrumentalparts scheint in weiten Partien in immer neuen Nuancierungen wie auf einem unerlösten Dominantseptnonakkord zu verharren, der noch um weitere Mitglieder der nach oben hin immer enger zulaufenden Obertonreihe und mit Teiltönen farbig angereichert wurde. Diese vergleichsweise einfache Folie dürfte angesichts der vorsätzlich stark eingeschränkten Sichtverhältnisse im Orchestergraben konzipiert worden sein: Auch die Arbeitsplätze der Instrumentalisten tauchen immer wieder in jenes vollständige Dunkel, das einerseits auf die „Innensicht“ des Komas verweist, andererseits auf die finale Finsternis.

Das durchaus abwechslungsreiche musikalische Gewebe trägt eine knapp zweistündige Zusammenkunft von Michaelas Familie mit den zuständigen Ärztinnen und Pflegern am Krankenbett. Eine Situation der Ambivalenz: Die in der Bewertung der Situation nicht gänzlich übereinstimmenden und auch von divergierenden Interessenslagen geprägten Angehörigen schwanken, ob sie der Patientin ein Erwachen mit schwerstgeschädigtem Hirn oder den Tod wünschen sollen. Denn die als Lehrerin gescheiterte Michaela, die auch ein Liebesverhältnis mit dem Mann ihrer Schwester unterhielt, lag nach einem Schwächeanfall beim Schwimmen allzu lange im eiskalten See, bevor sie aus dem Wasser gezogen werden konnte.

Zum dritten Mal begeben sich Händl Klaus und Georg Friedrich Haas in die Grenz- und Grauzonen von schwerbeschädigtem Leben und mehr oder minder schrecklichem Sterben.

Die Stimme der kaum noch zu einer Regung fähigen Patientin mischt sich immer wieder in die stockenden Reden der Anderen und deren episodischen Versuche, die dem rationalen Zuspruch Entglittene doch noch mit Worten der Erinnerung an schöne und schreckliche Ereignisse zu revitalisieren. Es ist die Stimme von Ruth Weber, die schon mehrfach zum Gelingen von Haas-Uraufführungen beitrug.

Die vorwiegend in denkwürdiger Weise „unbeschwert“, oft nachgerade leicht und licht wirkenden musikalischen Mittel tragen und befördern eine handlungsarme Handlung. Aufmerksamkeit, Bewusstheit für das Beklemmende und die menschliche Extremsituation stellen sich zuvorderst durch ein radikales szenisches Mittel her, das strikt durchgehalten wird und in dieser Konsequenz seine Logik offenbart: Der Theaterraum wird während des pausenlosen knapp zweistündigen Stücks immer wieder und teilweise über längere Streckenabschnitte zu 99,8 Prozent abgedunkelt.

Nur die schmalen Schlitze unter den Türen des alten Theaterchens zeichnen seitwärts Lichtstriche in die Finsternis. Besondere Verantwortung liegt in den Händen der namenlosen Akteure, die mit den Gesichtern zu den Türen gewandt stehen. In exakter Choreografie decken sie mit ihren Licht-Cashern die Anzeigen der Notbeleuchtung ab, wenn’s an der Zeit ist; und wenn es wieder Licht wird, unterbrechen sie ihr Verdunkelungswerk. Es wird tatsächlich so finster, dass man die Hand vorm Gesicht nicht mehr sieht. Den an Extrem-Situationen gewohnten Sängern bereitet dies vermutlich weniger Probleme als dem Publikum. Insbesondere betrifft es die Mitglieder des SWR-Orchesters, die ihren ohnedies schon herausfordernden Job über längere Perioden im Blindflug absolvieren müssen. Von allen zusammen wird ein ganz außergewöhnliches Maß an Konzentration verlangt: Unterordnung unter den Extrem-Anspruch des Werks und Team-Arbeit über jedes Plansoll hinaus.

Die komplexe Musiktheaterkonstellation kulminiert in einer Abschiedsszene sondergleichen. Da wird Michaela von allen um sie Versammelten immer und immer wieder – und durchaus mit der christlich-religiösen Konnotation – in einem ausladenden Decrescendo beim Namen gerufen. Bis auch dieses Ritual einer letzten Rat- und Hilflosigkeit im Dunkel verhallt und längst schon nicht mehr lokalisierbar ist, woher die Wort- und Klangimpulse in einem zu einer eigentümlichen Einheit verschmelzenden schwarzen Klangraum kommen: Michaela … Michaela. Damit offenbart sich „Koma“ als partizipatives Musiktheater kraft Bauart: Die (letzte) Dunkelheit betrifft alle. Es zeichnet sich ab, dass dies die bedeutendste neue Produktion der Saison 2015/2016 gewesen sein dürfte.

Frieder Reininghaus

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