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Schwerpunkt
Die pure Tonkunst ist passé
Über Tendenzen in der Avantgarde-Musik
Deutschland gilt als „Land der Musik“. „Urvater“ Bach, die Wiener Klassik, die Schönberg-Schule, die Darmstädter Ferienkurse, das Donaueschinger Festival, die Aktivitäten der ARD-Anstalten, ihre elektronischen und Abend-Studios und Neue Musik-Reihen – die Tonkunst gerade der Moderne hat hier ihre Pflegestätten. Und erhebt, ob via Bach oder das einstige „Mekka“ Darmstadt, ihren globalen Geltungsanspruch. Sprach Kant vom „Ding an sich“, so setzten die Komponisten auf „Musik an sich“, ja verbreiteten, schier missionarisch, „Die Idee der absoluten Musik“, wie sie vor allem der Musikwissenschaftler und -ästhetiker Carl Dahlhaus nicht müde war zu propagieren. Musik war am besten, schönsten, edelsten, erhabensten und reinsten in der pur Instrumentalen: Sinfonie, Sonate, Kammerensemble. Allenfalls Geistliche Werke oder die exquisite Verbindung von literarisch wertvoller Lyrik und unzirzensischem Gesang im romantischen Klavierlied fanden da Eingang in den bildungsbürgerlichen Kanon.
Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Aber noch lange traf man Kenner des historischen Repertoires, die kein Hehl aus ihrer Geringschätzung für die „Trivial“-Gattung Oper machten – von den verschiedenartigen Formen der Popularmusik ganz zu schweigen. Zumindest in Deutschland mag da protestantisch asketische Bilderfeindlichkeit im weitesten Sinne eine Rolle gespielt haben. Negativ-Formeln wie: opern-, gar operettenhaft, schlagerartig, Unterhaltungscharakter, „wie Filmmusik“ waren obligat zur Hand, stieß gehobenes Verständnis von Musikkultur auf ästhetische Phänomene, die sich den Traditions-Normen nicht fügten. Die Bachsche Fuge, die Beethovensche Sonate sind heute nicht mehr die alleinseligmachenden Modelle, aber die Funktion des Konzertsaals als Stätte höchster geistiger Anstrengung wie Erfüllung hat sich auch bei den Avantgarde-Veranstaltungen wenig verändert.
Karl-Heinz Stockhausens „SONNTAG aus LICHT“ an der Kölner Oper (2011). Foto: Klaus Lefebvre
„Struktur“ hieß das Zauberwort, zu deren Organisation und Rezeption verpflichtend, keinerlei „Zutat“ sollte von ihr ablenken: Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ hatte Modell-Charakter, seine These „Ich habe eine Erfindung gemacht, die die Vorherrschaft der Deutschen Musik auf Jahrhunderte sicherstellt.“ markierte den Spitzen-Anspruch einer „absoluten“ Kunst, die nur ihrem eigenen Gesetz folgt.
Aber selbst die deutsche Musik des 20. Jahrhunderts war alles andere als homogen. Erst recht inspirierten in Frankreich und Rußland Ballett, Exotismen, Jazz-Adaption und Film die Komponisten, abgesehen davon, daß schon bei Satie und Charles Ives der „Werk“-Begriff erodierte. Der Darmstädter Serialismus war auch eine Chimäre. Sogar Pierre Boulez, Strukturalist par excellence, meinte: Das sei nur ein kurzer Tunnel gewesen, durch den habe man halt durchgemusst. Vollends seit John Cage hat das autonom in sich stimmige Werk an Gültigkeit verloren. „Zufall“, „Alltag“ und die Gleichwertig/zeitigkeit mit Robert Rauschenbergs Malerei und Merce Cunninghams Choreografie führten zum multiplen Mobile. Komponieren wurde zum „componere“, Zusammenfügen heterogener Medien, Genres, Materialien, Techniken. Mauricio Kagel hat dies auf die triftige Formel gebracht: Komponieren mit „nichtklingenden Materialien“. Selbst die unzweifelhaft tönenden verdankten ihre Existenz dem Transzendieren von Klang: Geräusch, Geröchel, Gerümpel als Schallerzeuger, Schritt- und Klopf-Raster von Tanzenden, Hörspiel-Montage. Das „Staatstheater“ wurde zum Inbegriff einer Meta-Ästhetik in der Akustisches und Optisches vexierbildhaft zusammenschossen, in der sich vielerlei gegenseitig aufhob. Einen Extrem-Punkt markierte Kagels „Die Himmelsmechanik – Komposition mit Bühnenbildern“, samt zartem Gewittern. Der Verwirrspieler orakelte: „Nur die Wirklichkeit der Bühne kann die Unwirklichkeit solchen theatralischen Geschehens naturgetreu vermitteln.“ Das Artefakt wird dialektisch entkernt, mit ihm auch die Realität paradox entsorgt. Utopie und Utopieverlust halten sich die Waage. Dass Kagels Werke weniger gespielt werden, dürfte auch daran liegen, dass sie mit ihrem obligat hohen Anteil an visuellen Elementen die Konzertsaal-Situation transzendieren.
Die Bachsche Fuge, die Beethovensche Sonate sind heute nicht mehr die alleinseligmachenden Modelle, aber die Funktion des Konzertsaals als Stätte höchster geistiger Anstrengung wie Erfüllung hat sich auch bei den Avantgarde-Veranstaltungen wenig verändert.
Beobachtet man die Avantgarde-Veranstaltungen, so ergibt sich eine Paradoxie ganz anderer Art: Die konstruktive Anarchie des „instrumentalen Theaters“, der Multimedia-Labyrinthe, des Kollektiv-Improvisations-Aktionismus hat Patina angesetzt. Die „intuitive“ Musik der Ensembles um Stockhausen oder Globokar kann in manchen Aufnahmen immer noch fesseln. Doch auch hier steigt man nicht zweimal in denselben Fluss. Und das vielschichtig verästelte Werk Kagels ist nicht mehr sonderlich präsent. Welche Triebkraft manche seiner Neo-Dada-Provokationen immer noch entfalten können, war vor zwei Jahren beim „Zwei-Mann-Orchester“ in der Kölner Kunst-Station St. Peter zu erfahren. Oder bei der surreal-makabren Stummfilm-Pianisten-Séance „MM 51“ in Frankfurt. Verdrängt wurde freilich, dass selbst bei Kagels audio-visuellen Vexier-Mixturen in aller Material-Sammel- und Ordnungs-Tüftelei paraserielle Reste weiterwirkten.
Galt Stockhausen lange als typischer Avantgardist – seriell, Elektronik, Raum-Musik, Moment-Form –, dessen Titel auf „Struktur“ verwiesen, so überwog ab 1968 („Stimmung“) Poetisch-Bildliches, bis ins Kosmische hinein. Das meiste ab 1970 beschwört „Trans“-Welten. Theatralisch Entgrenzendes, szenische Anweisungen standen zunehmend im Dienste galaktisch-messianischer Ansprüche, zum Beispiel im „Licht“-Zyklus. Ein purer Strukturalist allerdings war schon der frühe Stockhausen nicht: Die Kölner „Originale“ (1961) waren ein klassisches Fluxus-Happening – wie gegenläufig die „Licht“-Superformel immer noch strikte Grundmaterial-Disposition verrät.
Ruhrtriennale 2012: „Europeras 1“ von John Cage in der Inszenierung von Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale
Doch eines haben, in allen Extremen, selbst Kagel, Stockhausen, Lachenmann, Rihm, Ferneyhough und Mahnkopf gemeinsam: die Idee vom demiurgischen Tonsetzer, der abgeschieden seine autonom-integralen Kompositions-Welten (er)schafft. Individuell konzipiert und argus-ohrig kontrolliert lassen sie immer noch romantischen Originalgenie-Kult nachzittern: Am „Werk“ ist nicht zu rütteln. Aleatorik, Improvisation, Kollektiv-Kreativität, mediale Interaktion haben da nichts (mehr) zu suchen.
Natürlich haben Cage und die von ihm inspirierte multipel „offene“ Ästhetik das hehre Bild vom Avantgarde-„Klassiker“ empfindlich relativiert. Die grundsätzliche Krise setzte später ein: Mit dem einmaligen „Werk“ wird auch der alleinverantwortliche „Autor“ in Frage, ja zur Disposition gestellt; wie ja auch das „postdramatische Theater“ (Thies Lehmann) die linear narrative, gar aristotelische „Einheit“ von der Bühne verbannte. Paradigmatisch hierfür ist etwa Heiner Goebbels, ohnehin ein überaus versatiler Musiker zwischen E und U, der sich vom autochthonen Komponieren ab- und multimedial-multiperspektivischen Formen von Hörspiel und Musik-Theater zuwandte, sich mehr und mehr zum mehrsträngigen „Inszenator“ tönender Bühnen-Stücke entwickelte, das Schreiben von Partituren hintanstellte, ja als Intendant der Ruhr-Triennale seine vielfältigen ästhetischen Erkundungen auch als Veranstalter programmatisch machte. Reine Hör-Stücke sind rar geworden.
Bei den renommierten Neue Musik-Veranstaltungen macht man zunehmend polare Erfahrungen, stößt auf Werke, die immer noch als Ganzes wie im Detail vom Anspruch auf immanente Integrität, ja „höhere“ Botschaft, „tieferen“ Sinn zeugen, ob bei Rihm oder Mark Andre. Demgegenüber stehen Künstler, die ebendem mißtrauen, dem kompletten Artefakt wie der charismatischen Rolle des einsamen Kreativen.
Erfahrungen bei Festivals wie Donaueschingen, Darmstadt, Stuttgarter „Eclat“, Karlsruher „Zeitfluss“, „cresc...“ in Rhein-Main scheinen jedenfalls zu belegen, daß „pure“ Tonkunst nicht mehr A und O ist, vielmehr Kollateral-Phänomene: Film, Video, Installation, Performance, diverse Aktionen, heterogene Materialschichten den Klang „an sich“ konterkarieren. Mit „Gesamtkunstwerk“ hat dies nicht zu tun, mitunter eher mit sogar flapsiger Pop-Allgegenwart.
Natürlich sind nicht alle Entgrenzungen oder Provokationen völlig neu: Dada wie multimedia haben eine lange Geschichte. Gleichwohl zeugt der Reflex „Alles schon dagewesen“ nicht selten von Ahnungslosigkeit und Sich-nicht-einlassen-wollen auf Ungewohntes, unter anderem die Verselbständigung von Parallel-Phänomenen zur „eigentlichen“ Sache der Musik. Hier einige Beispiele aus Donaueschingen: Francesco Filidei begnügt sich bei seinem „Killing Bach“ nicht mit dem Orchester, in dem er das Dritte „Brandenburgische“ zitiert, sondern konterkariert die solchermaßen verheißene Hommage mit grellen akustischen Zusatz-Effekten: Sirenen, Trillerpfeife, Schreckschusspistole, Bohrmaschine. Der Schock war beabsichtigt, ließ manche entrüstet ob solcher „Schändung“ reagieren. Übertrieben respektvoll waren die Zutaten sicher nicht. Aber als neofuturistischer Affront gegen Heile-Welt-Verklärung war die Aktion, durchaus musikimmanent, nicht so verwerflich, wie manche meinten. Zumal Optisches dabei keine Rolle spielte. Das sah bei Ondrej Adameks „Air Machine“ schon anders aus. Da wurden groteske Blasgeräte betrieben, unter anderem ein euterförmiger Dudelsack, und dem bizarren Geräusch-Ensemble entsprach eine Musik, die mit hintersinnig harmlosen Folklore-Anklängen irritierte. Hehre, reine Tonkunst sieht jedenfalls anders aus. Am spektakulärsten destruktiv geriet Simon Steen-Andersens „Klavierkonzert“, bei dem ein Flügel via Video zertrümmert wird, ein halbwegs intaktes Zweit-Instrument live gespielt wird und Beethovens Sonate op. 101 taucht als Zitat auf: Realität, Virtualität, Alt und Neu, Ganzes und Kaputtes sind ineinander verschränkt. Wer Beethovens Widerspiel von Konstruktion und Destruktion kennt und liebt, konnte dessen ramponierten Abglanz hier noch erfahren. Auch dies eine Form kultureller Therapie. Um solche ging es auch Stefan Prins in „Mirror Box Extension“, einer Live-Video Performance über Phantom-Schmerzen bei Musikern, bis hin zum Prothesen-Ballett. Jennifer Walshe hat ihre Musik mit Monstern, Alltags-Trash und Tiermasken ins auch visuell Griffige gesteigert. Klingende Abläufe und groteske Bild-Konfigurationen wirken ineinander ohne dass je ein Synästhesie-Anspruch entstünde. Die Kunst-Welt wird als parzellierte erfahren.
Zwei Beispiele aus Karlsruhe. „Goyas Hände“, als Spanien-Reflex unverkennbar, für einen virtuosen Solo-Gitarristen werden, teils live, teils per Video, zum Partial-Theater der Arme und Hände – bis hin zu Assoziationen an den Gekreuzigten wie den indischen Schiwa-Gott. Kurtags „Kafka-Fragmente“ machen Sängerin und Geiger zur Gender-Szene über Kreuz. Die Frau, als Mann gekleidet, agiert am Boden, der Spieler, in rotem Langkleid, fidelt den Totentanz. Eine neue Dimension tut sich auf.
Natürlich gibt es nach wie vor genügend substantiell reine Konzertstücke. Aber die Welt der Heiligen Cäcilia wird mehr und mehr von zentrifugalen Tendenzen bestimmt. Ärmer wird sie dadurch auf keinen Fall. Doch eine zweite Krise kommt auf die Tonkunst zu. Ein Theoretiker wie Harry Lehmann, der Komponist Johannes Kreidler sehen den Komponisten selber als „Auslaufmodell“, halten die Kette Schöpfer-Werk-Verleger-Apparat-Interpreten-Publikum-Medien-Kritik für obsolete Formen von Genie- wie Meisterwerk-Kult: Sampling und Internet seien an deren Stelle getreten.
Demiurg wie Autonomie, Instanzen der Kunstreligion, hätten abgewirtschaftet. Mit bildungsbürgerlichem Applomb die Thesen abzufertigen, ist allzu einfach: Der Kulturbetrieb ist nicht die heilste aller Welten. Nur: Der Glaube an die neue, übergreifende Super-Kreativität, rein aus der anonymen Elektronik heraus, verkennt die Fußangeln der Markt-Uniformität durch die komplette mediale Verfügbarkeit.
Sicher, die Situation ist unübersichtlich. War sie wirklich je anders? Bedenkt man, wer alles im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nebeneinander komponiert hat, ergibt sich ein ähnlich zentrifugales Bild der Musik. Nur: Die historische Distanz macht blind für das Kräftegeschiebe der Gegenwart.
Gerhard R. Koch
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