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Weisse und andere Elefanten
Editorial 2016/04 von Gerrit Wedel

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Zeitgenössisches Gesamtkunstwerk

Choroper „Angst“ in Darmstadt

Vordergründig ist es ein Bergsteigerdrama, welches das Große Haus des Staatstheaters Darmstadt präsentiert. Der Zuschauer befindet sich dabei an dem Ort, an dem in der Oper das Wagnis, der Triumph, aber auch der Absturz stattfindet. Mitten auf der Opernbühne also, jenseits, nicht diesseits des Orchestergrabens. Zugleich sitzt man da gemeinsam mit dem einzigen Protagonisten des Geschehens – dem Darmstädter Opernchor. Gewissermaßen mit Hautkontakt, denn die 42 Sänger, in weiße Ganzkörper-Overalls samt Kapuze gehüllt, sind bunt unter die Zuhörer gemischt. Sie illustrieren, reflektieren, ästhetisieren, dramatisieren und diagnostizieren ein Phänomen, das der Titel dieser Choroper klar macht: „Angst. Fünf Pforten einer Reise in das Innere der Angst“ für gemischten Chor, Chorsolisten und Instrumentalensemble.

Komponist ist der 1963 in Trier geborene Christian Jost. Extreme Befindlichkeiten der inneren und der äußeren Natur wie Welt-all, Bergwelt oder Tief-see sind die Themen des Komponisten. In „Angst“ verbinden sich die inneren und äußeren Zustände in einem Unglück, das zwei Bergsteiger in eine Situation bringt, in der der eine den anderen vom Seil abschneiden und dem Absturz überantworten muss, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden. Um diesen psychischen und moralischen Ausnahmezustand kreisen die fünf Sätze des einstündigen Werks, das 2006 in den Berliner Sophiensälen seine Uraufführung erlebte.

Chor des Staatstheaters Darmstadt. Foto: Welz/Müller

MusChor des Staatstheaters Darmstadt. Foto: Welz/Müllertertext

Josts Klangwelt und das Wort-Ton-Verhältnis sind deutlich auf seine textliche Grundlage hin geformt. Ein klassisch modernes Chorformat, könnte man sagen, wobei der am meisten aufgebrochene Vokalsatz als lautgestische Illustration zu Beginn das Absturzgeschehen betrifft. Für das enge und gehörbelastende Miteinander von aktiven und passiven Teilnehmern der teils heftigen nachbarschaftlichen Exklamationen hatte man von den Platzanweisern vorsorglich Ohrstöpsel erhalten.

Die Choristen bezogen dann einen anderen Standort, indem sie im eigentlichen Zuschauerraum, der in einen weißen Stufenberg verwandelt worden war, Platz nahmen. Mit ihrer weißen Kluft stellten sie jetzt eine unregelmäßige, an Gletscher-Topographie erinnernde Leinwand dar, auf die Filmausschnitte projiziert wurden: Bergszenen, ein am Seil hängender Menschenkörper, ein riesiges Gehirn-Präparat, ein Kind in seiner Verlassenheit. Die Chor-Oper ist hier dank Karsten Wiegands Inszenierung und der Video-Technik Bahadir Hamdemirs längst zu einem zeitgenössischen Gesamtkunstwerk geworden. Als sich dann auch noch die Publikums-Bühne in Gang setzt und auf den Abgrund des Orchestergrabens zufährt, ist man in einer stilisierten Parallelaktion zur grundstürzenden Erfahrung angelangt, die die Musik vermitteln will.

Ein Opernchor in Extremsituation, denn die 60 Minuten Bühnen- und vor allem Vokalpräsenz sind für jedes Flachland-Wandern zwischen Fidelio-, Lohengrin- oder Aida-Einsätzen wie eine hochalpine Herausforderung. Und die wurde mit beeindruckender Konsequenz sowie mit markanten und schönen Soli samt Sprecher-Partien bewältigt. Dirigiert wurde eine bestens disponierte Kammerbesetzung des Opernorchesters von Thomas Eitler-de Lint, dem Leiter des Opernchors des Staatstheaters Darmstadt.

Bernhard Uske

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