Vorboten einer neuen Ära?
„Die glückliche Hand“ und „Osud“ in Stuttgart · Von Juan Martin Koch
Ist einer Oper das Etikett „unaufführbar“ erst einmal angeheftet, ist es nicht so leicht wieder abzubekommen. Entweder versucht man, es mit einem einzigen schmerzhaften Ruck zu entfernen oder man geht dem Problem mit akribischer Detailarbeit zu Leibe. Stuttgarts neuer Opernintendant Jossi Wieler hat nun an einem Doppelabend beide Methoden angewandt. Die erste an Arnold Schönbergs expressionistischem Kondensat „Die glückliche Hand“, die andere an Leos Janáceks Künstlerdrama „Osud“ („Schicksal“). Mit unterschiedlichem Erfolg. Wobei es ja nicht so ist, dass Schönbergs Psychogramm nicht einen beherzten Ruck vertragen würde. Ob der Hebel nun aber ausgerechnet in Form einer ironischen Distanzierung anzusetzen ist, das blieb bei der Stuttgarter Premiere fraglich.
Shigeo Ishino (Ein Mann) und Mitglieder des Staatsopernchores. Foto: A.T. Schaefer
Der „Mann“, um dessen aussichtslose Zerrissenheit zwischen Liebessehnen und Kunstwollen es in Schönbergs 1913 vollendetem 20-Minüter geht, liegt zu Beginn auf einer Couch, die sich zwar nicht plump als eine Freudsche zu erkennen gibt, entsprechende Assoziationen aber durchaus nährt. Die strumpfmaskierte Gruppe von Pflegern oder Therapeuten (12 hochkompetente Mitglieder des Staatsopernchores), die ihm polyphon deklamierend zuredet, kann nicht verhindern, dass der Patient sich seinen erotischen Fantasien hingibt: Hinterm schwarz-irisierenden Vorhang wird eine gigantische Aufblaspuppe sichtbar, die zwar keinen Kopf, dafür aber umso größere Brüste trägt.
Dieser geht, nachdem der Mann sein Heil zwischenzeitlich in der künstlerischen Sublimierung gesucht hat, unter den ungestümen Liebkosungen allmählich die Luft aus. Elend wie zu Anfang liegt der Mann in der schlaffen Hüpfburg. Dieses Wind- und Farbencrescendo, von Schönberg in seinen ausufernden szenischen Anweisungen minutiös beschrieben, hatte sich zuvor mit matten Beleuchtungswechseln abgespielt: Wahre Erleuchtung sieht anders aus, und wenn es den Mann (mimisch wie stimmlich hervorragend: Shigeo Ishino), ausgehend von seiner „glücklichen“ (linken) Hand, kräftig durchschüttelt, sieht er – auf diese Ästhetik beziehen sich Wieler und sein Dramaturg Sergio Morabito ausdrücklich – einem Stummfilmkomiker ähnlich.
All das ist ganz amüsant anzusehen, vermag aber die Diskrepanz zu Schönbergs kompromissloser, so gar keine Distanz zu dieser düsteren Seelenerkundung wahrender Musik nicht zu überdecken, auch wenn das ausgezeichnet disponierte Stuttgarter Staatsorchester unter ihrem designierten Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling die Partitur stets transparent hält. Insgesamt kam Schönbergs synästhetisch visionäres „Drama mit Musik“ somit über die Funktion eines um Leichtigkeit in der Schwere bemühten Prologs nicht hinaus, dennoch wirkte die Koppelung mit Janáceks, sieben Jahre älterem, ebenfalls autobiografisch gefärbtem Dreiakter zwingend.
Die Kostüme situieren die Wiederbegegnung des Komponisten Živny mit seiner einstigen Liebe Míla in der historischen Dis-tanz der Entstehungszeit. Janáceks Spiel mit musikalischem Hinter- und Vordergrund entsprechen die Laufwege der Kurgäste (prächtig die Kraft der schon bei Schönberg aufscheinenden Sonne besingend: der Staatsopernchor). Einige Jahre später nimmt das titelgebende Fatum seinen Lauf. Der fünfjährige Sohn spielt – entwicklungsverzögert – im Laufstall, Živny versucht seine selbsttherapeutische Oper zu vollenden, die wahnsinnige Schwiegermutter wird hinterm Paravent ruhiggestellt, bis sie sich vom Balkon stürzt und die Tochter mit sich reißt.
Im dritten Akt stehen wir nun – das ist Janáceks werkästhetisch bahnbrechende Volte – vor einem zerstörten Leben und einer unvollendeten Oper. Studenten von heute (so Wielers Zuspitzung) machen sich am Tag der Uraufführung über die musikdramatischen Aufwallungen des Werks lustig, als der Komponist eintritt, der – so ist nun allen klar – Protagonist seiner eigenen Oper ist. Auch der inzwischen erwachsene, traumatisierte Sohn ist anwesend. In einem ebenso überraschenden wie zwingenden coup de théâtre Jossi Wielers setzt er – im Kostüm seiner Mutter, den Hut seiner Großmutter auf dem Kopf – der Veranstaltung und der unvollendbaren Oper ein jähes Ende.
Stellt die auch in der Personenzeichnung präzise geformte Arbeit Wielers und Morabitos also die Inszenierbarkeit von Janáceks 80-minütigem Geniestreich eindrucksvoll unter Beweis, so unterstreicht Cambrelings vor Intensität und liebevollem Detailreichtum glühendes Dirigat die musikalischen Qualitäten des Werks. Würde er dabei sein hörbar mitschwelgendes Orches-ter dynamisch stärker zügeln, hätten die wunderbaren Sänger (John Graham-Hall als Živny, Rebecca von Lipinski als Míla und Rosalind Plowright als Mutter führen ein vielköpfiges, fabelhaftes Ensemble an) mehr Raum für Zwischentöne abseits des dramatischen Überdrucks.
Am Ende gab es verdienten Jubel für einen kühnen Premierenabend, der das künftige Zusammenwirken des neuen Stuttgarter Leitungsteams mit Cambreling als GMD (ab der kommenden Spielzeit) mit Spannung erwarten lässt. Schon Wielers/Morabitos erste Arbeit in dieser Saison, Bellinis „La Sonnambula“, war von künstlerischer Aufbruchstimmung durchweht: Da entsteht etwas in Stuttgart.
Juan Martin Koch
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