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Im Kampf gegen die totalitäre Macht

»Lanzelot« von Paul Dessau in Weimar und Erfurt

Eine weitere Kooperation zwischen dem Deutschen Nationaltheater Weimar (DNT) und dem Theater Erfurt, in der wieder die Chöre besonders gefordert sind: Paul Dessaus „Lanzelot“ handelt von einem totalitär herrschenden Drachen und dem Kampf Lanzelots gegen den Mächtigen und seine Getreuen. Ob die befreite Gesellschaft ohne den Totalitarismus wird leben können, lassen Komponist Paul Dessau, Texter Heiner Müller und Regisseur Peter Konwitschny offen.

Steinzeitmenschen und konsumgeile Meuten unter der Knute manipulierter Meinungsbildung: Es gibt nur wenige Inszenierungsabenteuer, in denen Bühnenkollektive gefordert werden wie die Opernchöre des Deutschen Nationaltheaters und des Theaters Erfurt mit Verstärkung durch Kinder der schola cantorum Weimar und der Chorakademie Erfurt (bei den Vorstellungen in Erfurt). Volle Kraft voraus also für das auch in den 30 Jahren nach dem Mauerfall vernachlässigte Opernmärchen von Paul Dessau (1894-1975). Der Komponist wurde von der DDR-Regierung weitaus häufiger mit Staatspreisen zu bändigen versucht als tatsächlich aufgeführt. Trotzdem gilt die Uraufführungsreihe von „Puntila“, „Lanzelot“, „Einstein“ und „Leonce und Lena“ in den Inszenierungen von Dessaus Ehefrau Ruth Berghaus an der Deutschen Staatsoper Berlin als Meilenstein in der Geschichte des DDR-Musiktheaters.

Máté Solyom-Nagy (Lanzelot), Oleksandr Pushniak (Drache), Emily Hindrichs (Elsa), Juri Batukov (Charlemagne), Uwe Stickert (Heinrich) und Mitglieder der Opernchöre des DNT Weimar und des Theater Erfurt. Foto: Candy Welz

Máté Solyom-Nagy (Lanzelot), Oleksandr Pushniak (Drache), Emily Hindrichs (Elsa), Juri Batukov (Charlemagne), Uwe Stickert (Heinrich) und Mitglieder der Opernchöre des DNT Weimar und des Theater Erfurt. Foto: Candy Welz

Deshalb bedeutet die Koproduktion der nur 25 Kilometer voneinander entfernten Theater in Weimar und Erfurt weit mehr als eine triumphale Wiedergutmachung: Sie ist ein Korrektiv im schmalen Rinnsal heutiger Dessau-Rezeption aus dem Geist seiner Schöpfer, zu denen als Textdichter Heiner Müller und Ginka Tscholakowa gehören. Peter Konwitschny war Regieassistent von Ruth Berghaus. Er zeigt hier intelligente Leichtigkeit und komödiantische Gelöstheit, welche der Frage nach der menschenwürdigen Gestaltung einer gefährdeten Zukunft nichts von ihrer Schärfe nimmt.

Der Drache, dessen Tötung und deren Methodik die Handlung bestimmen, kann ein Diktator sein wie Stalin oder eine Akkumulation von zielloser Macht und entfesseltem Turbokapitalismus. Müller und Dessau ließen das offen. Nach der Berliner Uraufführung 1969 sowie Produktionen in Dresden und im Nationaltheater München (1971) wurde die „Oper in 15 Bildern“ nicht mehr aufgeführt. Den Volksvertretern im Osten war die Handlung trotz vieldeutiger Lesbarkeit als Abhängigkeit der Massen, die sich mit dem alljährlichen Jungfrauen-Opfer behäbigen Wohlstand und Konsum sichern, nicht geheuer. Und im Westen, wo es andere Tonsprachen neben Orff, Donaueschingen, Darmstadt, Nono und Henze schwer hatten, war Dessaus dialektische und postmoderne Kompositionsverfahren vorwegnehmende Polystilistik zwischen Humperdinck und Schönberg chancenlos.

Sogar die Paraphrasen der Wagnerschen Siegfried-Rufe durch den berufsmäßigen Drachentöter Lanzelot wirken wie Kammermusik im Aufgebot von 29 Solobesetzungen und einem Riesenorchester mit 13 Schlagzeugern, von dem einige Gruppen aus dem überfüllten Orchestergraben in zwei knallrote fahrbare Käfige auf die Hauptbühne verfrachtet werden mussten. Die weibliche Hauptfigur Elsa entbindet im Volksgetümmel, während sie sich gegen den Drachen und den lügnerischen Sohn des Bürgermeisters (Uwe Stickert) erwehrt, einen gesunden Säugling. Emily Hindrichs und ihre Kolleginnen und Kollegen lassen sich alle auf die – hier passt das Wort wirklich – wahrhafte Personenführung Konwitschnys ein. Sein kongenialer Ausstatter Helmut Brade reißt oft die Bühnenfläche bis zur Brandmauer auf: Eine opulente Retro-Tapete mit dem Porträt des Drachen lässt keinen Zweifel am Totalanspruch dieses Herren der Welt. Oleksandr Pushniak gibt den Finanzmogul und schaut aus wie ein Klon aus Bundespräsident, Geldbürger und Generalmusikdirektor alter Schule. Seit seinem Erfurter Wozzeck hat sich Máté Sólyom-Nagy als Bariton-Experte für das Besondere etabliert. Für Konwitschny wird er in den Massen, die schon als Steinzeitmenschen lieber konsumieren als die Keule für eine bessere Welt schwingen, ein trendiger Mediator, auf den Elsa einfach fliegen muss.

Mit den Chören gestaltet Konwitschny eine Studie über den Opportunismus des so genannten gesunden Volksempfindens. Insofern ist „Lanzelot“ auch ein von den Chorleitern Andreas Ketelhut, Jens Petereit und Cordula Fischer entsprechend differenziert einstudiertes musikalisches Volksdrama, das eine äußerst bedenkliche evolutionäre Entwicklung kenntlich macht. Denn die ewig Kleingeistigen begnügen sich nicht mit Shoppen und Public Parties. Die meisten im Schwarm kultivieren Ying-Yangsches Schwarz-Weiß-Denken und demonstrieren das mit dem Drachen-Signet auf der Krawatte. So trägt man eine jederzeit änderbare Gesinnung zur Schau. Doch in seiner exzellenten Bewegungsarbeit belässt es Konwitschny natürlich nicht bei diesem einen Deutungsangebot. Sichtbar wird jene soziale Mechanik, durch die Populismus entsteht und genutzt, aber nicht bekämpft wird: Das Ende der Weimarer Aufführung erreicht man nur mit dem mulmigen Gefühl, dass von den Massen die entscheidende Umsturz-Gelegenheit verpasst wurde. An Relevanz dürfte diese Leistung der Chöre kurz nach dem Jubiläum 30 Jahre Mauerfall also schwerlich zu übertreffen sein.

Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot) und Mathias Bettighofer (Lanzelots Alter Ego). Foto: Candy Welz

Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot) und Mathias Bettighofer (Lanzelots Alter Ego). Foto: Candy Welz

Trotzdem scheint noch immer das Märchenstück durch, in dem die schnöden Korrupten das solideste Bürger-Outfit tragen. Herrlich auch, wie mädchenhaft die Märchen-Katze (Daniela Gerstenmeyer) auf dem Sofa lümmelt und dann leider doch nicht zur Bedeutungshöhe des gestiefelten Katers aufsteigt.

Dominik Beykirch zeigt, was für ein souveräner Könner er als Dirigent ist. Für die Ton-Einspielungen, die Dessau in den Orchestermassen wie ein Soloinstrument einsetzt, brauchte man zwei volle spielfreie Tage. Trotzdem übertönt Beykirch keine Solisten und holt aus der Partitur Opulenz, wo Dessau mit Strauss-, Humperdinck-, Wagner- und Tschaikowski-Paraphrasen vielleicht etwas zu viel Ideologie-Hygiene betreibt. Brisanz hat das Ende heute erst recht; bei Dessau und Heiner Müller bleiben trotz des freudigen Schlussakkords alle Fragen offen. Konwitschny hat seine in den letzten Arbeiten demonstrierte Tendenz zum moralisierenden Schmollen überwunden. Eine authentischere Lesart dieser Entdeckung, für die sich der Regisseur und Weimars Operndirektor Hans-Georg Wegner mit jahrelanger Hartnäckigkeit einsetzten, ist kaum denkbar. Vor allem für westliche Hörer U50 markiert diese Ausgrabung einen ganz wichtigen Stein im Mosaik der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Premiere: 23. November 2019
Deutsches Nationaltheater Weimar
Premiere in Erfurt: 16. Mai 2020

Roland H. Dippel

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