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Rezensionen

500 Jahre Bayerisches Staatsorchester

Ein gewichtiger Jubiläumsband

500 Jahre gelebte Tradition. Das Bayerische Staatsorchester. Hrsg. von Florian Amort in Zusammenarbeit mit Thomas Herbst. Bärenreiter-Verlag 2023. ISBN 9-783 7618-2642-3. BVK04020. 287 Seiten. 39,95 Euro

Eher eine Kriminal-Akte? Am 20. Juli 1968 stürzte um 19.45 Uhr in der „Tristan“-Aufführung des Nationaltheaters GMD Joseph Keilberth sterbend vom Dirigentenpult. Am 21. Juni 1911 brach der Königlich Bayerische GMD Felix Mottl am Pult seiner 100. „Tristan“-Aufführung zusammen und starb kurz darauf. Nicht genug: Richard Wagner wie der junge Monarch Ludwig II. von Bayern schätzten das Sänger-Ehepaar Schnoor von Carolsfeld; Tenor Ludwig Schnoor von Carolsfeld lag als Tristan bei der Uraufführung 1865 stundenlang auf dem zugig-kalten Bühnenboden; drei Aufführungen später war der 29-Jährige tot. Eine Legendenbildung um den „tödlichen Tristan“ setzte ein… und zu alledem lieferte das Königliche Hoforchester gleichsam die Begleitmusik.

500 Jahre gelebte Tradition. Das Bayerische Staatsorchester.

500 Jahre gelebte Tradition. Das Bayerische Staatsorchester.

Natürlich erzählt das gewichtige Buch eine viel größere Geschichte. Herausgeber Florian Amort hat schon den Umschlag überlegt gestalten lassen: Buchstaben fehlen – so wie es in der Orchestergeschichte Lücken gibt, am schmerzlichsten zu den Jahren von 1933 bis 1945, als die braunen Kulturbarbaren auch das Münchner Musikleben arisch-teutsch um-gestalteten. Ob zu fehlenden staatlichen Akten nicht in Gewerkschafts- oder Parteiarchiven sowie privaten Nachlässen mehr zu finden wäre, konnte zeitlich wie finanziell nicht erarbeitet werden. Dafür kommen zu den meisten anderen Aspekten Kenner zu Wort. Ein stolzer chronologischer Bogen: vom ab 1523 tätigen Allround-Komponisten Ludwig Senfl weiter etwa zu Kurfürst Karl Theodor, dessen 1778 übersiedelte „Mannheimer Kapelle“ europaweit berühmt war für ihre Kontrastdynamik bei Forte-Piano, das so bislang unerhörte Crescendo, das fulminante Unisono und die enorm wuchtigen Akkordschläge. „Cannabich und seine Soldaten“ (Dirigent Christian Cannabich und die erstklassigen Instrumentalisten) setzten neue Maßstäbe für die Orchesterkultur und prägten die Entwicklung der Sinfonik bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dazwischen Mozart und die Uraufführung des „Idomeneo“ 1781, später ein Rossini-Fieber.
Dem gewachsenen bürgerlichen Musik-Interesse trug das Orchester als Vorreiter Rechnung: Ab 1811 zielte die neueingerichtete Reihe der „Akademie-Konzerte“ abseits höfischer Kunstorganisation auf das Bürgertum als Abonnenten und Besucher. Dann folgt das „Kapitel Wagner“, über „Tristan“ hinaus mit „Meistersinger“, Skandalen, „Rheingold“, „Walküre“, dem Orchester als Rückgrat der Bayreuther Festspiele ab 1876. Später etablierte sich eine Richard-Strauss-Tradition, dann Erstklassiges wie Modernes, Ballett-Aufführungen und eine Reihe von Musiktheater-Uraufführungen.

Gut fünfzig Seiten von dreihundert sind prägenden Dirigenten bis zu Kirill Petrenko gewidmet. Erfreulicherweise sind auch der Kampf um den besten Nachwuchs und die eigene Hermann-Levi-Akademie dargestellt. Ein eigenes Kapitel ist den weit unterschätzten, meist nicht sicht- oder hörbaren körperlichen wie mentalen Anforderungen an Orchestermusiker gewidmet. So hat die Nachwuchs-Akademie eine eigene Diplompsychologin, die als ehemalige Olympionikin körperliche wie geistige Belastungen bei Jugendlichen zu behandeln weiß.

Im letzten Kapitel wird die frappierende Breite der Auftrittsorte aufgezeigt: vom höfischen Tanz- und Ballsaal zum bürgerlichen Odeon und weiter zu Cuvilliés-, Prinzregenten- und Nationaltheater – daneben eben auch nahezu alle adeligen Schlösser, Turnier- und Redouten-Säle sowie später Freilichtaufführungen in Höfen der Residenz. Von Anfang an gehören „Gastspielreisen“ dazu: zunächst Reichstage in Augsburg oder Wien, dann etwa Eisenbahn-Einweihungen in Nürnberg oder Mozart-Gedenktage in Salzburg. Einen Höhepunkt stellt die „Parsifal“-Uraufführung 1882 durch das Hoforchester im Bayreuther Orchestergraben mit seiner völlig veränderten Sitzordnung dar. In der NS-Zeit gastierte das Staatsorchester aus der „Hauptstadt der Deutschen Kunst“ in einigen Hauptstädten der besetzten Länder. Immerhin schon 1953 erfolgte eine Gastspiel-Einladung in Londons Covent Garden. Die modernen Reisemöglichkeiten gipfelten 1974 im ersten Japan-Gastspiel der gesamten Staatsoper; Europa-, Asien- und Amerika-Tourneen folgten. Das Jubiläumsjahr 2023 setzt dies fort: Ein Gespräch mit GMD Vladimir Jurowski steht am Ende des Buches. Mit ihm unternahm das Staatsorchester eben eine Europa-Tournee mit drei verschiedenen Programmen und Solisten zwischen Meran und Wien, Luzern, Berlin, Hamburg, Paris und London… mitsamt einer Protest-Klebe-Aktion an seinem Pult in Luzern, deren Aktivisten Jurowski ernsthaft zu Wort kommen und dann wieder Klänge sprechen ließ. Es ist also „in Bewegung geblieben“ im vollen Bewusstsein seiner Tradition – das kennzeichnet das Bayerische Staatsorchester im Buch wie in der musikalischen Realität.

Wolf-Dieter Peter

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