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Hintergrund

Amerikanische Opernrenaissance

Die New Yorker „Met“ geht neue Wege

„Das Problem ist nicht zeitgenössische Oper. Es muss die richtige zeitgenössische Oper sein“, sagte Peter Gelb kürzlich in einem Interview mit der New York Times, gefragt nach seiner neuen Strategie, bei der Programmgestaltung der Metropolitan Opera zeitgenössische Oper ins Zentrum zu rücken.

Das altehrwürdige Haus am Lincoln Square in New York City, das eher für traditionelle Inszenierungen der Kassenschlager bekannt ist, setzt seit einiger Zeit auf Opern von lebenden Komponisten. Ein Drittel aller Stücke in der laufenden Saison wurde innerhalb der letzten 40 Jahren geschrieben. Dabei ist die Met kein Ausreißer innerhalb des kommerziell geprägten amerikanischen Operngeschäfts; vielmehr springt sie auf einen Trend auf. Die USA erleben derzeit eine wahre Opernrenaissance. Im ganzen Land sprießen Operninitiativen aus dem Boden, Opernhäuser vergeben etliche Kompositionsaufträge und für Kompositionsstudenten ist es mittlerweile eine echte Perspektive, von der Opernkomposition den Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch von welcher Oper sprechen wir, wenn wir von der Wiedergeburt der Oper sprechen? Geht die Stra-tegie auf? Was ist die „richtige“ zeitgenössische Oper?

Die New Yorker Metropolitan Opera. Foto: Enric Domas/Unsplash

Die New Yorker Metropolitan Opera. Foto: Enric Domas/Unsplash

Dass eine zeitgenössische Oper 75 Neuinszenierungen innerhalb von gut 20 Jahren erfährt, ist wahrlich eine Seltenheit. Bei der Oper „Dead Man Walking“, ein Meilenstein des amerikanischen Opernwunders, war dies der Fall. Jake Heggie heißt der Komponist, der Mitte der 90er-Jahre noch in der Marketingabteilung der San Francisco Opera arbeitete, in der Freizeit Lieder für Renée Fleming oder Federica von Stade schrieb, und dann zufällig gefragt wurde, ob er nicht auch mal eine Oper komponieren wolle. Resultat war „Dead Man Walking“, uraufgeführt im Jahr 2000, mit einem Libretto nach dem gleichnamigen Film und Memoire der Ordensschwester Helene Prejean. Die Seelsorgerin begleitete zum Tode verurteilte Schwerverbrecher.

Kriminalität ist ein amerikanisches Dauerthema, das assoziiert ist mit einer ganzen Auswahl von gesellschaftlichen Problemen: Rassismus, Armut, Waffen. Diese spricht „Dead Man Walking“ freilich nicht explizit an, es ist vielmehr die Geschichte einer Beziehung zwischen Seelsorgerin und Verbrecher. Und so inszenierte Ivo van Hove die Oper auch diesen Herbst an der Met: Seine JVA ist clean wie ein Operationssaal, man sollte sich ganz auf die psychologische Entwicklung konzentrieren. Die Emotionen werden medial unterstützt, Kameras fangen live die Gesichtszüge der Sänger ein, sodass auch die Zuschauer im Family Circle („den billigen Plätzen“) die Mikroexpressionen ohne Opernglas zu lesen im Stande sind. Zum Hochglanz kommen cineastische Filmeinspielungen, teilweise verschmelzen sie mit den Handlungen auf der Bühne. Es wäre natürlich ein Frevel zu schreiben, die Musik Heggies klinge passenderweise dazu wie Filmmusik, denn das ist ja eigentlich keine Aussage angesichts der Pluralität dieser Branche. Doch die meisten dürften wissen, was damit gemeint ist. Die Musik ist imaginativ, mal dramatisch, mal weich, verwendet als Idée fixe einen Gospel. Es sind eine Oper und eine Inszenierung, die zu den gewandelten Sehgewohnheiten der Zuschauer passen. Die Starbesetzung mit einer überragenden Joyce DiDonato und Yannick Nézet-Séguin (selten wurde ein Dirigent beim Treten an das Dirigentenpult bereits so bejubelt) tut ihr Übriges. Der Saal ist gut verkauft, die Menschen sind begeistert.

Nicht erst seit „Dead Man Walking“ geht es bergauf für die amerikanische Opernindustrie: Welterfolge wie „Einstein on the Beach“ von Philip Glass mit seiner neuartigen, avantgardistischen, aber gleichzeitig massentauglichen Musiksprache oder „Nixon in China“ von John Adams waren Samen eines zarten Pflänzchens, einer neuen amerikanischen Opernkultur, das spätestens seit 2000 Früchte trug, und seither mehr und mehr.

Initiativen wie „Opera America“ bieten Work-shops für Komponisten an: Begleitet von Mentoren schreiben sie Kurzopern, die von der Washington National Opera aufgeführt werden. Pionierarbeit leistet das Opernhaus in St. Louis: Komponisten-Nachwuchsförderung sowie Kompositionsaufträge für abendfüllende und im Nachklang äußerst erfolgreiche Werke wie etwa „Fire Shut Up In My Bones“ (2019) des Jazztrompeters und oscarnominierten Filmkomponisten Terence Blanchard. Dessen geniale Mélange aus italienischem Arioso und Jazz erklang 2021 ebenfalls an der Met, als erste Oper eines afroamerikanischen Komponisten überhaupt. Auch Blanchard geht es um reale Probleme. „Fire Shut Up In My Bones“ hat sich ebenfalls ein Memoire als Vorlage genommen. Die Oper porträtiert das Leben des Afro-Amerikaners Charles M. Blow in den USA der Achtziger, erzählt vom Aufwachsen als schwarzer Amerikaner in Louisiana, von Rassismus, von Kindesmissbrauch. Dabei ist die Dramaturgie wahrlich opernhaft und macht sich die Irrealität der theatralischen Realität zunutze: Rückblenden, Vielfach-Verkörperungen. Dazu eine bildhafte Musik, angereichert mit sehr viel Jazz inklusive Jazzband, über der die Sänger ihre Kantilenen ausbreiten.

Neben den eher autobiografischen Opern „Dead Man Walking“ und „Fire Shut Up In My Bones“ – zumindest beruhen sie auf autobiografischer Literatur – geht ein Trend dahin, Themen aus dem täglichen Informationsfluss der Zuschauer direkt aufzugreifen. Der Fall von Danny Chen beschäftigte 2011 die US-amerikanische Öffentlichkeit über Monate: Ein US-Soldat mit chinesischen Wurzeln beging nach systematischer Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung Suizid, das US-Militär hielt Dokumente lange zurück, versuchte, das Ganze herunterzuspielen. Bereits 2014 wurde eine Oper zu diesem Fall uraufgeführt, Huang Ruos „An American Soldier“. Hier zeigt Theater seine anklagende, entlarvende Wirkung. Die Botschaft am Ende ist bitter. Was bleibt vom amerikanischen Wappenspruch „E pluribus unum“, „One from many“, übrig angesichts von Rassismus?

„Oper wurde als subversives Medium entdeckt“, sagt Allison Chu, Doktorandin an der Yale University. Ihr Promotionsprojekt ist das, was sie „Documentary Opera“ nennt. „Um auf historisch marginalisierte Gruppen aufmerksam zu machen, wird auf reale Geschichten und Perspektiven zurückgegriffen“. Statt griechischer Götter, Parabeln oder Literaturopern also Autobiografisches, Gerichtsprozesse, Protokolle (wie im Fall „Doctor Atomic“ von John Adams). Das kommt gut an. „Nach Corona hat das noch einmal Fahrt aufgenommen. Wir sehen ein unglaubliches Ausprobieren, man will aus ausgetretenen Pfaden ausbrechen, amerikanische Oper neu definieren.“

Es liegt auf der Hand, dass zum einen die greifbaren Themen, zum anderen die überwiegend greifbare Musik bei den Hörern gut ankommt. Das ist in der amerikanischen Opernlandschaft anders als in Europa, wo man bei Zeitgenössischem immer häufiger hört: „Hauptsache, mehr Menschen im Publikum als auf der Bühne.“ In den USA sind die Häuser zum Geldverdienen und zum Anziehen von Sponsorengeldern gezwungen. Sonst machen sie dicht, wie kürzlich die New York City Opera. Während eine allzu avantgardistische Musik abschrecken könnte, versuchen die Opernhäuser ihre Zeitgenossenschaft auf dem Weg des Sujets zu behaupten, Relevanz zu erzeugen. Auch Geldgeber achten heutzutage – und das ist nicht anders als in Europa – immer mehr darauf, gesellschaftliche Themen zu fördern, nicht nur die schönen Künste.
Freilich verwischt die Grenze zwischen Broadway und Met bisweilen, doch was soll das elitäre Naserümpfen, wenn die Oper überlebt, gar wiedergeboren wird? „Es gibt keine richtige Oper im Falschen“, hätte Adorno vielleicht Peter Gelb geantwortet.

Philipp Lojak

 

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