Rezensionen
Beethoven und die Wahrnehmung von Klang
Michael Heinemann: Beethovens Ohr. Die Emanzipation des Klangs vom Hören. edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020, 156 S., 19,80 Euro, ISBN 978-3-96707-452-9
Das Bild von einem tauben Beethoven, der nur mithilfe eines Hörrohres fähig war, Sprache und Musik zu vernehmen, kennt man. Wie stand es wirklich um Beethovens Gehör und seine Möglichkeiten, Musik über dieses wahrzunehmen? Wie wirkte sich seine Taubheit auf die insbesondere im Spätwerk zunehmend nuancierten Kompositionen aus? Diesen und weiteren Fragen geht Michael Heinemann in seinem Buch über Beethovens
Ohr aus einem originellen Blickwinkel auf den Grund.
Michael Heinemann: Beethovens Ohr. Die Emanzipation des Klangs vom Hören.
Anhand einiger Berichte von Beethovens Zeitgenossen wird klar, wie schlimm es um seine Taubheit wirklich stand, wie er damit umzugehen schien und wie dies auch von außen wahrgenommen wurde. In mehreren Deutungsansätzen arbeitet der Autor heraus, dass Beethovens Wahrnehmung von Musik nicht (ausschließlich) an sein Gehör gebunden war.
Der Leser bekommt einen gut nachvollziehbaren Einblick in Beethovens Kompositionsprozesse, die sowohl in seinen Skizzenbüchern als auch in den vielen Bearbeitungsstufen der Autographen erkennbar sind. Unter dem Titel „Taub“ findet sich als letztes Kapitel des Buches eine Chronologie von Beethovens Hörverlust. Dokumentiert durch Briefe, Notizen und Biographien Beethovens und ihm nahestehender Personen wird der Verlauf der Ertaubung ab 1796 nachvollziehbar dargestellt. Die später in kürzeren zeitlichen Abständen zu findenden Einträge aus den Konversationsheften illustrieren die Zuspitzung der Situation und Beethovens Auseinandersetzung mit potenziellen Hilfsmitteln sehr nachdrücklich.
Fazit: Das Buch eröffnet aus origineller Perspektive neue Dimensionen der Musik als eine auf viele Weisen erfahrbare Kunst. Sprachlich und musikwissenschaftlich wird auf hohem Niveau, auch Grundsätzliches über die Wahrnehmung von Klängen reflektiert. Der Autor geht der Frage nach, wie der Gehörverlust Beethovens Werk beeinflusst haben könnte. Gut untermauert wird gezeigt, dass Beethoven durch den Verlust seines Gehörs wohl kaum den Bezug zur klanglichen Vorstellung seiner Werke verlor, sondern infolgedessen umso differenziertere Spieltechniken und Anschlagsarten durchdachte. Er „hörte“ auf vielerlei Ebenen – der Klang wurde vom Hören emanzipiert.
Patrick Ohnesorg |