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Berichte

Drei Wochen Unendlichkeit

Gekürzter »Lohengrin« und »Wagner 22« an der Leipziger Oper

„Man fühlt sich wie amputiert“, sagt Andrea Schuschke über die geplante Kurz-„Carmen“, bei der alle Chorstellen zwischen Habanera und Torero-Einzug gestrichen werden. Seit 1988 singt sie im Leipziger Opernchor, ist Mitglied des Chorvorstandes und Landesvorsitzende der VdO/Sachsen. Was sollen da erst die Herren sagen? An der Oper Leipzig waren im November 2020 gleich zwei Chor-Opern mit überwiegenden Herren-Parts in Corona-bedingt stark eingestrichenen Fassungen angesetzt. Erst „Lohengrin“ – dieser gelangte am 1. November nach Probeneilverfahren sogar eine Woche früher als vorgesehen vor physisch anwesendem Publikum zur eiligen Premiere. So kam man in letzter Sekunde der zweiten Aussetzung des Vorstellungsbetriebs wegen Corona zuvor. Die Premiere von „Il trovatore“, geplant am 29. November, wurde mit starken szenischen und musikalischen Änderungen für den Premieren-Livestream
am 6. Dezember modifiziert. Seit Giancarlo del Monacos Rocker- und Roadmovie-Inszenierung war „Il trovatore“ etwa 20 Jahre nicht mehr am Augustusplatz zu erleben.

„Lohengrin“ in Corona-Fassung. Foto: Kirsten Nijhof

„Lohengrin“ in Corona-Fassung. Foto: Kirsten Nijhof

Trotzdem hängt am „Lohengrin“ weitaus mehr, war dieser doch eine der beiden von Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor seit 2009 und parallel Opernintendant seit 2010, dringlichst gewünschten Neuproduktionen zu „Wagner 22“. Vom 20. Juni bis 14. Juli 2022 sollen alle 13 vollendeten Wagner-Opern in chronologischer Reihenfolge das Finale von Schirmers Direktionsägide sein: „Drei Wochen Unendlichkeit“ mit umfangreichem wissenschaftlichen Rahmenprogramm. Die Wagner-Wochen ruft man im bereits begonnenen Vorverkauf als Hommage an Schirmers Amtsvorgänger Gustav Brecher aus. Dieser machte das Leipziger Stadttheater vor 1933 mit Uraufführungen wie „Jonny spielt auf“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ zu einem der avanciertesten Theater Europas, demissionierte nach einem „Rienzi“-Dirigat wegen der Machtergreifung 1933 und wählte 1940 mit seiner Frau den Freitod. Die Wagner-Wochen, ein Segment der Marketingmarke „Musikstadt Leipzig“, ereignen sich in teilweiser Überschneidung mit dem Bachfest 2022 „We Are Family“. „Für den Chor eines großen Repertoire-Opernhauses sind die Parts des Standard-Repertoires in kurzer Zeit abrufbar. Dazu gehört Wagner“, sagt Thomas Eitler-de Lint, Chordirektor seit 2017. Er räumt ein, dass es bei seinem Start für den Chor mit regelmäßigen Aufführungen großer Werke wie „Turandot“ und „Don Carlos“ in der vieraktigen Fassung in den ersten Jahren mehr zu tun gab als in der Spielzeit 2019/2020 vor Corona. Während der Pandemie probt der Chor außerhalb des Opernhauses in einem Saal der Theaterwerkstätten in der Dessauer Straße täglich in zwei nach Dringlichkeit gegliederten Gruppen (Frauen/Männer, hohe/tiefe Stimmen, Werke mit Teil-Besetzungen). Vor der Sommerpause fanden noch einige „Lohengrin“-Proben im Zuschauerraum des Opernhauses statt. Bei den Aufführungen im November und Dezember – im einen Fall vor ausgedünntem Publikum, im anderen für die digitale Weltöffentlichkeit – agierten die Solisten auf dem hochgefahrenen Orchestergraben, spielte das Gewandhausorchester auf der Hauptbühne und sang der Chor konzertant von den Seitenbühnen einer der größten Opernbühnen weltweit. 100 Karteninhaber musste Marketingleiter Uwe Möller wegen akut verschärfter Bestimmungen kurz vor Beginn der „Lohengrin“-Aufführung nach Hause schicken.

Eitler-de Lint nimmt die „Meistersinger“-Proben im Frühjahr 2021 in Angriff, Anfang Dezember setzte er bereits Proben für „Rienzi“ an. Denn ein Highlight in „Wagner 22“ sind die selten aufgeführten Jugendopern „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“. Die von Wagner mit äußerst umfangreichen und anstrengenden Chorpartien versehenen Werke sind seit einer Koproduktion der Oper Leip-zig mit den Bayreuther Festspielen 2013 zum 200. Geburtstag des Komponisten im Repertoire. Den letzten Zyklus aller Wagner-Opern gab es zu dessen 100. Todestag 1983 an der Bayerischen Staatsoper München unter Wolfgang Sawallisch, dort allerdings in einem Zeitraum von sieben Monaten mit „Die Feen“ als konzertanter Aufführung. Insofern ist Schirmers große Leipziger Wagner-Vision spektakulär und der bisherige Höhepunkt für die Wagner-Rehabilitation in dessen Geburtsstadt. 

Teil von  „Wagner 22“. Foto: Tom Schulze

Teil von „Wagner 22“. Foto: Tom Schulze

Für den Chor gibt es allerdings ein Strukturproblem. Seit der Wende wurden Positionen ausscheidender Kollegen bis nach 2010 nicht nachbesetzt und freie Planstellen gestrichen. In der Spielzeit 2020/2021 gibt es noch 68,5 Stellen. Produktionen mit 120 oder mehr Chorsängern wie „Boris Godunow“ oder George Taboris legendäre Inszenierung von „Moses und Aron“ unter der Intendanz von Udo Zimmermann sind Vergangenheit. Als Andrea Schuschke 1988 nach ihrem Studium im zu DDR-Zeiten modellhaften Chorstudio Andreas Pieske (gest. 2020) ein Festengagement erhielt, stand auf ihren Noten die Archivnummer 102. Heute gibt es keinen festen Extrachor mehr. Neben Chorgästen werden personalintensive Produktionen auch mit aus dem Jugendchor der Oper Leipzig entwachsenen Stimmen besetzt. Erst in den letzten Jahren gab es einige Neuverpflichtungen. Diese zehn jüngeren Kollegen wurden für die Einstudierung der nicht geläufigen Wagner-Opern aus der Kurzarbeit genommen.

Dem Chor-Ensemble fehlt der Energieschub durch die szenische Darstellung auf der Bühne. Woher soll jene Energie, durch die sich ein Theater- von einem Konzertchor unterscheidet, auch kommen? Die Gruppen treten strikt getrennt von Damen- und Herrenseite auf, singen, gehen wieder. Die verbliebenen Chor-Passagen aus „Lohengrin“ erklangen mit minimaler elektronischer Verstärkung. Im Zuschauerraum und beim Live-Stream mit Aufzeichnung würde bei der bevorzugten Kamera-Frontalperspektive sonst akustisches Volumen und Fülle fehlen.

Ulf Schirmer und der eingesprungene Regisseur Patrick Bialdyga, künstlerischer Produktionsleiter am Haus, verständigten sich über die Striche. Fast alle dramatischen Einwürfe beim Gericht und das Brautlied als Highlight-Konfekt blieben. Verzichtet wurde auf alles zum Verständnis der Handlung Entbehrliche, also der Weckruf mit dem Heerrufer und der Brautzug zum Münster. Besonders leid tat es Eitler-de Lint um das große Chorfinale am Ende des ersten Aufzugs. „Oh fänd ich Jubelweisen“ wäre bei dieser Not-Premiere allerdings auch etwas deplatziert gewesen.

Dieser schnell gestrickten Ersatzproduktion soll freilich noch eine „richtige“ Neuproduktion folgen. Denn Schirmer will sich zum gegenwärtigen Planungsstand für „Wagner 22“ nicht mit der Wiederaufnahme des von ihm zur Premiere 2009 dirigierten, von Hamburg und Barcelona nach Leipzig gewanderten „Klassenzimmer-Lohengrin“ Peter Konwitschnys begnügen. Auch die bisher geplante „Lohengrin“-Neuinszenierung wäre eine Ko-Produktion mit dem Gran Teatre del Liceu Barcelona gewesen, die sich wegen der Pandemie zerschlagen musste. Jetzt gibt es zu „Wagner 22“ die aus Antwerpen, Venedig und Bern bestens bekannte Inszenierung von Calixto Bieito.

„Lohengrin“ wird oft als italienischste und kantabelste Wagner-Oper bezeichnet. So hätte die auf Solopartien konzentrierte Fassung der Oper Leipzig bewusst die intimen und psychologisch subtilen Akzente des Dramas auf Vertrauen, Frageverbot und Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe akzentuieren können. Daraus wurde – die meisten Piano-Strophen der Titelpartie waren gestrichen – wenig mit Michael Weinius als „Lohengrin“, der seine Energien auf die Höhen-Forcements richtete. Überragend an Präsenz war Stéphanie Müther als seine Gegnerin Ortrud.

Dreiviertel des Publikums der seit einigen Jahren stattfindenden Wagner-Festtage und -Wochenenden kommen nicht aus Leipzig und informieren sich gewiss auch über andere Wagner-Angebote. In Sachsen gibt es während der Promotion-Kernphase für „Wagner 22“ „Ring“-Zyklen unter Christian Thielemann an der Semperoper und in Chemnitz, Kulturhauptstadt 2025, unter dem von der Kritik begeistert akklamierten Guillermo García Calvo in Inszenierungen von vier Regisseurinnen. Die Chemnitzer „Götterdämmerung“-Inszenierung von Elisabeth Stöppler wurde mit dem Theaterpreis DER FAUST 2019 als beste Musiktheater-Regie ausgezeichnet. Die letzte überregional als preiswürdig betrachtete Wagner-Produktion der Oper Leipzig war 2010 die vom Fachmagazin Opernwelt als Inszenierung des Jahres nominierte Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Jochen Biganzoli zum 50-jährigen Jubiläum des neuen Leipziger Opernhauses. Auch diese soll jetzt erneuert werden. Die Premiere damals dirigierte allerdings nicht GMD Ulf Schirmer, sondern Axel Kober, in den letzten Jahren mehrfach Musikalischer Leiter von „Lohengrin“ und „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen.

Roland H. Dippel

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