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Ritt durch die Tanzgeschichte
Ralf Stabel: „Rote Schuhe für den Sterbenden Schwan – Tanzgeschichte
in Geschichten“, Henschel Verlag, Leipzig 2010, 192 Seiten,
19, 90 Euro
Das war nun ein zugegebenermaßen rasanter Ritt durch die
Tanzgeschichte....“. Was Ralf Stabel selbst bezüglich
seines Eingangskapitels bekennt, trifft aber gleichermaßen
auf die folgenden 16 Kapitel seines neuen Buches „Rote Schuhe
für den Sterbenden Schwan“ zu.
Das ist nicht insgesamt nachteilig. Der Leiter der staatlichen
Ballettschule Berlin und Autor einer Gret Palucca-Biographie versteht
es, die großen Strömungen, Neuerungen und Weiterentwicklungen
im Tanz wie auch Tanztheoretisches mit leichter Hand zu raffen.
Für noch nicht tanzkundige Leser mag es genau das Richtige
sein.
In flottem Tempo geht es von spätmittelalterlichen Tanzbräuchen über
die Ballettklassik bis hin zum Ausdruckstanz der 1920er-Jahre,
zum Tanztheater der 70er/80er und zum zeitgenössischen Tanz.
Und da Stabel als studierter Historiker den Tanz auch im jeweiligen
gesellschaftlichen Zusammenhang sieht, kann selbst der Insider
noch manches dazulernen. 1237 sollen sich in Erfurt über hundert „Knaben und
Mägdlein“ versammelt haben, um gemeinsam tanzend bis
Arnstadt zu ziehen. Generell, so erfährt man, galt im Mittelalter
das Tanzen als Verführung zur Sünde. Ein Lehrling zum
Beispiel durfte nicht an Tanz-Vergnügungen teilnehmen, nur
die Gesellen, die schon eine Familie ernähren konnten – falls
das Tanzen kinderschwere Folgen haben sollte.
Ausgehend von den zahlreichen dargestellten Totentänzen und
tanzbezogenen Dokumenten des Mittelalters und der frühen Neuzeit
kommt Stabel zu einer Verknüpfung von Tanz und Tod, von Weiblichkeit
und Sünde. Und von Weiblichkeit und Begehren, Verführung,
Verführtwerden, von Tod an gebrochenem Herzen oder Mord aus
Eifersucht handeln ja auch die romantischen und klassischen Ballette,
wie Stabel plausibel erläutert. Er liefert ausführliche
Ballett-Inhaltsangaben, zum Beispiel von der romantischen „Giselle“ und
dem klassischen „Schwanensee“, allerdings in einem
das gesamte Buch bestimmenden flapsigen, sich offensichtlich jugendlichem
Lese-Publikum andienenden Stil, der dem Sujet kaum angemessen ist. „Muttern
hat eine Brautschau organisiert“, so Stabel zum Handlungsausgangspunkt
in „Schwanensee“. Und als Erklärung von Siegfrieds
Treuebruch an Odette mit dem Schwarzen Schwan Odile: „Denn
statt eine der von Mama Vorsortierten zu erwählen, beschäftigt
er sich nun intensiv mit diesem ‚heißen Feger‘.“ Andererseits arbeitet Stabel wichtige Charakteristika von Tanzstilen
heraus, bringt sie knapp formuliert auf den Punkt: „Im romantischen
Ballett wird eine tragische Geschichte mit den Mitteln des klassischen
Tanzes dargestellt; im klassischen Ballett wird die Virtuosität
des Tanzes vor dem Hintergrund einer mitunter tragischen Geschichte
ausgestellt.“ Stabel behandelt weiterhin, unter anderem,
das Thema Dramaturgie, Shakespeare als idealen Tanzstofflieferanten,
das Realismus-Diktat der DDR der 50er-Jahre, also die Ächtung
des handlungslosen Ausdruckstanzes. Und er beschreibt Vorgehensweisen
damaliger parteihöriger Publizistik- und Tanz-Prominenz.
Bei dieser Heterogenität bleiben manche Kapitel unfertig,
wirken Schlussfolgerungen an den Haaren herbeigezogen. Zudem stellt
Stabel eine ganze Reihe Fragen, deren Beantwortung er als dringliche
Aufgabe an künftige Autoren verteilt. Verräterisches
Zeichen für ein merkbar aus enormem Zettelkasten, aber offensichtlich
doch relativ schnell geschriebenes Buch – das trotz alledem
dienen kann. Malve Gradinger |