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Vom Kirchenchor zur VdO
Dankesrede von Hans Hotter – Wilhelm Pitz-Preis 2003 in
Bayreuth
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
ich komme mir vor wie ein Kind mit einem etwas schlechten Gewissen,
das überraschenderweise nicht gescholten, sondern gelobt wird.
Dabei ist es doch ein alter Herr, dessen langweiliges ereignisarmes
Pensionistendasein Sie heute so unerwartet unterbrochen haben. Wenn
Sie mich fragen, wie sich das denn bei mir ausgewirkt hat, antworte
ich wie der kleine Moritzl auf die Frage des Lehrers: „Was
kannst du mir sagen über die alten Perser?“ – „Nur
Gutes, Herr Lehrer, nur Gutes.“ In Wahrheit wurden eine ganze
Reihe von Gefühlen in mir ausgelöst. Ich möchte sie
alle zusammenfassen in zwei Worten, goldenen Worten, wie ich meine:
Dank und Freude. Und dann wäre da auch noch das kleine Wörtchen
„Ehre“. Wie verhält man sich, wenn sie einem zuteil
wird? Genügt da ein feines, bescheidenes Lächeln oder
gilt es tiefer einzudringen in das Gewissen, dorthin, wo auch Eitelkeit,
Stolz und Selbstgefälligkeit angesiedelt sind? Ich mache einen
Abstecher in eine Welt, die auch für viele Jahre die meine
war und die es wohl auch heute noch wäre, würde sie es
mir nicht so verdammt schwer machen, ihr in der heutigen Verkleidung
die Treue zu halten. Ich spreche von der Welt der Oper. Da sehe
ich zwei Figuren, jede gewichtig in ihrer Weise. Beide haben‘s
mit der Ehre. Ich weiß über sie recht gut Bescheid, weil
ich selbst auch „die Ehre“ hatte,, sie auf der Bühne
verkörpern zu dürfen. Der eine ein gar weltweiser Geselle,
der meint, man gebe ihm zuviel von dieser Ehre und er könne
vor ihr nur bestehen, weil sie ihm zeige, wie beliebt er sei. Der
andere, ebenfalls recht gewichtig in des Wortes wahrster Bedeutung.
Ihn verführt das Wort „Ehre“ dazu, sich mit Hilfe
eines gewaltigen Humpens voll Weinseligkeit in eine recht skurrile
Philosophie zu verlieren, die endet in der Feststellung, alles auf
dieser Welt sei Spaß. Also auch die Ehre ist ein Spaß?
Nun – Freude macht sie allemal.
Dankbarkeit und Freude empfinde ich in erster Linie für den
Mann, der dem heutigen Preis seinen Namen gab: Wilhelm Pitz, mit
dem sich eine glückliche Erinnerung an eine fruchtbare Zusammenarbeit
verbindet: bei zahllosen Proben und Aufführungen auf der Bühne
oder im Konzertsaal, bei der gemeinsamen Tätigkeit vor dem
Mikrophon, für Rundfunk oder Platten. Ich habe ihn bewundert,
er schien mir für einen Chorleiter geschaffen wie kein zweiter,
Maßstäbe setzend für alle, die ihm nachfolgen. Aber
auch als Mensch mit seinem prächtigen Humor stand er mir nahe
wie ein Freund. Von ihm habe ich gelernt, Probleme dadurch zu lösen,
dass man sie ins Lächerliche zieht und ihnen dadurch ihre Schwere
nimmt. Ich meine, in ihm so manche Ähnlichkeit mit meinen beiden
„Ehrenmännern“ entdeckt zu haben: Ist in ihm nicht
etwas vom Schuster-Poeten aus Nürnberg und spricht nicht unser
Sir Shakespearisch-Verdi‘scher Prägung von der Themse
eine Sprache, die gut zum rheinischen Humor unseres Wilhelm Pitz
passt?
Dass die Idee zur Schaffung unseres Preises aus einer Berufsgruppe
kam, die ich in den vielen Jahren meiner Berufsausübung kennen
und bewundern lernte und die mir immer zu sehr in der zweiten Reihe
zu stehen schien, wenn es galt, gebührend anerkannt und am
Erfolg beteiligt zu werden, dafür habe ich nur Dank und Freude
übrig. Ich habe frühzeitig hinreichend erfahren, wie viel
man von einem Opernchormitglied zu erwarten gewohnt ist: Anpassung
an eine Gemeinschaft, wie sie der Chor darstellt. Verzicht auf zuviel
Individualität, trotzdem aber in Stimme, Musikalität und
schauspielerischer Begabung Ansprüche zu stellen, wie man sie
bei einem Solisten voraussetzt. Wie viel Toleranz und Disziplin
gehört dazu, auf der Bühne manchmal Zeuge sein zu müssen
einer recht mittelmäßigen Sololeistung, einer Leistung,
der man selbst vielleicht besser gerecht würde. So manche Stimme
aus dem Chor würde die Voraussetzungen für eine Solokarriere
durchaus erfüllen. Nur aus irgend einem Grunde kommt es dann
nicht dazu, wenngleich wir wissen, dass viele Sololaufbahnen ihren
Anfang im Chor nahmen. Ich denke da an zwei solcher Fälle aus
der glorreichen Vergangenheit unserer Münchner Oper, beide
noch Idole meiner Gymnasiastenzeit, mit denen ich vor gar nicht
so langer Zeit selbst noch auf der Bühne stehen durfte.
Luise Willer war die gefeierte Altistin im ersten Weltkrieg und
in den Jahren danach. Sie hatte eine Stimme mit einem unverkennbaren
Timbre. Noch heute, nach mehr als 80 Jahren, habe ich ihren Brangäneruf
aus dem 2. Akt des „Tristan“ oder ihr „Erbarme
dich“ aus der Matthäuspassion im Ohr. Sie war die Erste
im Ensemble, die mir seinerzeit, 1937, als ich an die Münchner
Oper kam, das kollegiale „Du“ anbot – damals durchaus
keine Selbstverständlichkeit. Einmal erzählte sie mir,
wie es zum Wechsel von der Chordame zur Solistin kam. In den Jahren
nach dem ersten Weltkrieg war der grosse Bruno Walter Chef im Haus
an der Maximilianstraße. Er plante eine Neuinszenierung von
Mozarts „Figaro“. Unter anderem sollte das kleine Duett
„Amanti costanti“ am Ende des 3. Aktes, meistens von
zwei Damen aus dem Chor gesungen, neu besetzt werden. Zu diesem
Zweck ließ sich Walter nicht, wie man annehmen würde,
vorsingen, sondern er schritt in einer Bühnenprobe an den Chordamen
entlang, mit den Augen in Richtung der Beine der Damen. „Als
er vor mir stehen blieb“, hier unterbrach Luise Willer ihre
Schilderung mit einem hellen Lachen: „ob du‘s glaubst
oder net, aber i hab damals keine schlechten Haxen g‘habt.“
Walter schien der gleichen Meinung gewesen zu sein. Denn sie bekam
die kleine Rolle und machte damit den Anfang einer langen glorreichen
Solistenkarriere, die sie ihrer Meinung nach nicht etwa ihrer Stimme,
sondern ihren, wie sie sagte, gut gewachsenen Beinen zu verdanken
hatte.
Der andere war der Bassist Ludwig Weber – den Älteren
unter Ihnen ist sein Hagen oder Gurnemanz in den Anfangsjahren Bayreuths
noch ein Begriff – er war eher ein wortkarger, nicht sehr
zugänglicher Kollege. Er war zuerst einer derjenigen im Ensemble,
die sich wenig Mühe gaben, ihr Missvergnügen über
mein Erscheinen in München nicht merken zu lassen. Es dauerte
einige Zeit, bis er etwas zugänglicher wurde. Dazu hat meiner
Meinung nach viel unsere gemeinsam verbrachte Probenzeit in Bayreuth
beigetragen. Damals, in den frühen 50er-Jahren, waren wir gewohnt,
die ganze Vorprobenzeit und die vier Wochen Festspielzeit in Bayreuth
zu bleiben. Von auch noch so kurzen Unterbrechungen, Besuchen zu
Hause oder gar Vorstellungen andernorts war nie die Rede. Das hatte
den Vorteil, dass wir alle viel Zeit miteinander verbrachten, auch
außerhalb des Theaters. Wir waren so etwas wie eine große
Familie, lernten uns alle besser kennen. Ich glaube, dass es das
war, was auch uns beide allmählich einander etwas näher
brachte. Wir wurden echte Kollegen, die sich gegenseitig schätzten.
Er war ursprünglich im Chor der Wiener Volksoper tätig,
bevor er seine so erfolgreiche Laufbahn als Solosänger begann
(...).
Zu guter Letzt komme ich zu einem der ganz Großen auf der
Opernbühne, der schon mit 19 Jahren in einem Opernchor sang,
bevor er seine grandiose, einzigartige Weltkarriere antrat. Ich
spreche von dem russischen Bassisten Feodor Schaljapin. Ich hatte
das Glück, ihn noch auf dem Konzertpodium in Prag zu hören
und vor allem zu sehen. Der Eindruck auf den damals 25-Jährigen
war überwältigend und nachhaltig.
Im Charakterisieren und im Entdecken neuer Farben im Singen wie
im Sprechen, überhaupt im Gestalten auf Bühne oder Podium
wurde er mein großes Vorbild. Als ich 15 Jahre alt war und
noch nicht an den Beruf eines Sängers dachte, erstand ich mir
aus meinem ersten selbstverdienten Geld zwei Plattenaufnahmen von
ihm: „Boris Tod“ und Massenets „Don Quichotes“
Todesszene. Das „Je mort“ des Quichote habe ich nie
vergessen.
Lassen Sie mich einen Schritt in die Vergangenheit tun. Im Jahre
1927 bot man mir, dem 18-jährigen Gymnasiasten, die Leitung
eines kleinen Laienchors in einer Münchner Vorstadtkirche an.
Zwei Jahre lang habe ich diese Arbeit mit einem Chor ausgeübt
und dabei erste Erfahrungen in einem Beruf in der Musik gesammelt.
Inzwischen hat sich ein gewaltiger, goldener Bogen gebildet, der
seinen Anfang nimmt in St. Georg in Milbertshofen im Jahre 1927.
Das Ende des Bogens landet im Chorsaal des Bayreuther Festspielhauses.
Im Jahr 2003. Begonnen hat es vor 76 Jahren mit einem Chor und enden
tut es mit der VdO. Wenn das nicht Grund genug ist dankbar zu sein
und sich zu freuen?
Hans
Hotter
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